Mitte März ist immer eine besondere Zeit für mich.
Der Frühling, der sich mit ersten Osterglocken und urplötzlich in Blütenschnee gehüllten Bäumen schon ankündigte, beginnt nun auch offiziell.
Dann ist da der Saint Patrick’s Day am 17. März.
Als in Irland Geborene habe ich einen etwas hysterisch-nostalgischen Hang zur grünen Insel. Leg eine zerkratzte Platte der Pogues auf, reich mir “Dubliner” von James Joyce und schenk mir einen West Cork Single Malt Wiskey ein - and I’m more than delighted. Der Saint Patrick’s Day gehört als Inbegriff der irischen Feierei natürlich dazu.
Zwar weiß ich nichts weiter über die Geschichte des Heiligen, auch habe ich mir noch nie „Kiss me I’m Irish“- Schilder an die Jacke geheftet (wer mal Mitte März in den USA oder Kanada ist und sich in einschlägige Läden verirrt, wird von einer Lawine quietschgrüner Merchandise-Artikeln begraben). Aber das ist halt ein wichtiger Feiertag für mich.
Als ich 16 war, wollte ich ins “Molly Malones” gehen, unserem Kleinstadt-eigenen Irish Pub.
Es war früher Abend und ich hatte mich hübsch gemacht (“original irische” Musiker waren angekündigt und ein paar meiner Hardrock-Freunde wollten auch kommen - das Besäufnis war vorprogrammiert). Der Lidstrich saß, und die Klamotten waren schwarz und irgendwas zwischen Punk und Schick.
Ich lief in die Küche, um mich von meiner Mutter zu verabschieden. Sie hatte immer erfreulich wenig Probleme damit, wenn ich in die Kneipe ging.
Außer an diesem Abend. Sie bat mich, dazubleiben, weil sie mir etwas zu sagen hätte.
Ich fragte ungeduldig:
“Was gibt’s denn?”
Sie sagte:
“Papa stirbt.”
Ich sagte nichts.
Da, wo sich eigentlich unserer Küchenfußboden befand, öffnete sich plötzlich ein dunkles Loch. Ich fiel da hinein. Obwohl, eigentlich wurde ich hineingesogen.
Irgendwie muss ich es dann wieder aus dem geheimnisvollen Loch herausgeschafft haben, weil ich mit meiner Mutter ins Krankenhaus fuhr, um mich von meinem Vater zu verabschieden.
Wir mussten blaue (oder vielleicht doch irisch-grüne?) Kittel überziehen, um die Intensivstation zu betreten. Die Schläuche und Apparate, die ich nur aus Filmen kannte, wirkten in echt ebenso selbstverständlich wie monströs. Mein Vater, sonst immer der Herr über alle Technik und Maschinen, wurde plötzlich von Maschinen beherrscht. Und am Leben erhalten.
Ich berührte seine Hand, die warm war, aber regungslos.
Ich weiß nicht, ob wir kurz oder lang blieben, wahrscheinlich eher kurz. Dann gingen wir wieder. Was soll man auch machen in einem engen Raum voll tickender Apparate und einem Mann, der sonst so redegewandt war und nun völlig stumm und schon fast in einer anderen Welt.
Am späteren Abend habe ich doch noch Saint Patrick’s Day gefeiert.
Nicht im Pub, aber immerhin mit den nötigen Zutaten. Nach dem Krankenhaus-Besuch habe ich mir am Zigarettenautomaten rote Gauloises gezogen. Irgendwo trieb ich ein Bier auf. Und ich hörte Musik: Led Zeppelins „Babe I’m Gonna Leave You“, was ebenso wie “Dazed and Confused” zum Soundtrack der folgenden Monate werden sollte.
Am nächsten Morgen stellten die Ärzte im Beisein meiner Mutter die Maschinen ab. Wo ich in dieser Zeit war, weiß ich nicht mehr.
Als absolutes Papa-Kind bin ich damals durch alle Feuer und Stürme und Fluten gegangen.
Aber habe dann gelernt, ohne ihn zu leben.
Ich habe erfahren, dass echte Freude nicht ohne Trauer existiert. Hoffnung nicht ohne Verzweiflung. Mut nicht ohne Angst. Empathie nicht ohne eigenes Leid. Ich habe auch mitbekommen, dass der Tod uns viel näher ist, als wir es gerne hätten. Und wie wichtig es ist, das Leben zu genießen - es dauert ja wirklich nicht lang. Wie sehr es sich lohnt, jeden Tag zu lachen.
Und dass das Leben voller Widerstrüche ist: Ich z.B. glaube weder an Gott, den heiligen Geist noch sonstwas Religiöses, aber natürlich sitzt mein Vater auf einer Wolke und schaut auf mich runter (wenn auch, wie ich hoffe, nicht unbedingt in allen Lebenslagen:).
Und seither feiere und trauere ich jedes Jahr Mitte März, und zwar gleichzeitig.
Denn das eine schließt das andere überhaupt nicht aus.
Bis nächste Woche,
xx Judith
Wunderbar. Applaus! Wunderbar das Gefühlswirrwarr beschrieben <3