Was Kunst mit uns macht
Oder was passiert, wenn der Instagram-untauglichste Star der Welt stirbt
Als ich letzten Donnerstag vom Tod Shane MacGowans hörte, wunderte ich mich, dass er es überhaupt bis 65 geschafft hat - was für eine supertoughe Schnapsnase, dachte ich mir zuerst.
Aber dann ging schnell so eine Nostalgie und Melancholie los, die mich überraschte. Ich fand mich in einem Rabbit Hole von Pogues-Videos wieder, die ich in einer Mischung aus Abscheu (diese Zähne, dieser Suff!) und Hingabe (diese Wahnsinnstexte, die geilen Melodien, diese herrliche Leckt-mich-alle-am-Arsch-Attitüde!) anschaute.
Ich hörte “Thousands are sailing”, den Song, der von der hoffnungs- und leidvollen Emigration so vieler Iren in die USA handelt und den ich schon seit 30 Jahren über alles liebe.
Oder “Fairytale of New York”, wo sich das Liebespaar in fürchterlichster Gossensprache anranzt, einer der schönsten und seltsamsten Weihnachtshits aller Zeiten.
Oder die Aufnahme eines Fernsehauftritts von 1987, wo die Pogues, die ur-irischen, bärtigen Dubliners und The Clash-Sänger Joe Strummer gemeinsam “Irish Rover” spielen - ein irres Geschrammel und Gejohle vor einem Publikum, das nur mühselig auf den Stühlen sitzenbleiben kann.
Und ich lese über Shane, z.B. diese geniale Reportage von 2022, die uns überaus szenisch ins Dubliner Heim des siechenden Säufers mitnimmt. Er sagt während des Interviews entweder gar nichts, nuschelt Unsinn oder haut ein paar geistreiche Kommentare raus - und währenddessen schlürft er immer wieder geräuschvoll an seinem Gin Tonic, O-Ton: “Schhhhhhlrrrrp”. Ein wirklich tolles Stück, man erfährt auch viel über die sonderbare, manchmal richtig unangenehme Rolle des fragenden Journalisten.
Natürlich ist mir klar, warum mich der Tod Shanes so mitnimmt - ich trauere nicht über ihn, sondern über den Verlust meiner Jugend. Die Pogues bestimmten meinen Soundtrack Anfang der 1990er entscheidend mit. Als in Irland Geborene identifizierte ich mich dem irischen Stolz, den sie versprühten, und mit Punk hatte ich schon insofern etwas zu tun, als dass mein erster Freund ein hübscher Punker mit einem zeitweise grünen (!) Iro war. Und obwohl ich kein ganzes Guiness runterbekam (anders als Shane, zu dessen Diät das angeblich seit seinem fünften Lebensjahr gehörte), waren zwei, drei große Kilkenny damals wirklich kein Problem für mich.
Mit fortschreitendem Alter muss man ja leider öfter mit Abschieden dieser Art rechnen. Wenn die Idole der Jugend wegsterben, sagt unsere Trauer weniger über unser Fan-Sein aus, als über unseren Egozentrismus. Shane ist mir im Grunde egal, aber ich möchte das verspielte, wilde, Kilkenny-trinkende Mädchen von damals nicht verlieren.
Andererseits stimmt das auch wieder nicht. Natürlich ist Shane mir nicht egal. Schließlich hat seine Dichtung, seine völlig neuartige Musik zwischen traditionellen Folk und Punkrock und seine Schnoddrigkeit und Unangepasstheit ja genau dazu geführt, dass ich mich damals so fühlen konnte wie ich es tat. Es war unter anderem ja auch seine Kunst, die mich berührte und formte.
Wenn ich seine Musik jetzt höre, ein paar Tage nach seinem Tod, klingt es wie ein Echo aus einer anderen Zeit. Die verwegene Melancholie, die ich schon damals aus den Pogues-Platten heraushörte, ist immer noch da - sie hat nur eine andere Färbung angenommen.
Weil ich kein fotografisches Gedächtnis habe, verzweifle ich manchmal an der Flüchtigkeit der Kunst. Der Eindruck, den ein außergewöhnliches Buch, ein Museumsbesuch oder ein Konzert hat, ist für meinen Geschmack meist viel zu flüchtig. Oder kann hier jemand bitte genauer berichten, was in Madame Bovary geschieht - einem Buch, dass ich mit 18 das letzte Mal gelesen und heftig geliebt habe?
Weil ich leider nie ein Archiv über all meine kulturellen Erlebnisse angelegt habe, scheint sich aller vergangene Kunstkonsum mehr oder weniger verflüchtigt zu haben - ähnlich wie die grauen Zellen, die durch zu viele Kilkennys ja ebenfalls dahin sind.
Aber - so stimmt das natürlich auch nicht. Lieber stelle ich mir vor, dass sich alles Gelesene, Gehörte, Erfahrene in Schichten übereinander lagert. Vielleicht auch tief im Inneren ablagert, in irgendwelchen schwach beleuchteten Stollen, wo es nicht unbedingt abrufbar, aber immerhin da ist.
Gustave Flauberts Madame Bovary ist da - weil ich sie gelesen habe. Shane MacGowan ist da, weil ich ihn gehört habe. Heinrich Heine ist da, weil ich manche seiner Gedichte schon mit sieben Jahren geliebt habe.
Deshalb jetzt cheers und sláinte auf Shane und all die anderen, die uns mit ihrer Musik, ihrer Dichtung und ihren Bildern gefüttert haben - was wären wir ohne sie!
Hab eine schöne Woche,
Deine Judith
PS. Nächstes Mal melde ich mich aus New York, wo ich - Inshallah - ein paar Fairytale-like Vorweihnachts- und Chanukkatage verbringen werde!