“Bald ist der Sommer vorbei, also esst langsam und genießt es gefälligst!”
Das sage ich derzeit ungefähr täglich, während ich mit den Kindern in der Nachmittagssonne vor dem Kiosk stehe und sie ihr Calippo Cola oder Nogger Chock vertilgen.
Natürlich kommt keine Antwort.
“Habt ihr gehört, es könnte das letzte Eis sein! Bald ist Herbst!” versuche ich es nochmal.
Immer noch hört mir niemand zu, denn die Zukunft ist für die Kinder entweder abstrakt (who the fuck is herbst?) oder verheißungsvoll (cool, dann kommt ja bald Halloween, Nikolaus und Weihnachten!) - und außerdem scheint der Sommer ja überhaupt nicht aufzuhören.
Aber ich vermisse ihn schon jetzt. Und ich beschäftige mich erst jetzt richtig mit ihm, wo er sich langsam verabschiedet. Wie das manchmal so ist.
Und während ich auf dem Spielplatz herumsitze und die zuckergetunten Kinder beobachte, erinnere ich mich an den Sommer vor ein paar Jahren. Das war die Zeit, als das Söhnchen immer früh um sechs aufwachte, ich mich mit ihm zum Stillen in den Erker zurückzog und aus dem Fenster schaute.
Meist war noch niemand auf der Straße.
Aber einer war schon wach.
Im Haus schräg gegenüber stand fast jeden Morgen ein junger Mann auf dem Balkon, um die 30, mit Bart und Bauch. Er rauchte und schaute ins Weite (sofern das in einer durchschnittlichen Berliner Straße so geht). Der Balkon war mit Grünpflanzen vollgestellt, eine Art Wald auf zwei Quadratmetern.
Ich glaube, er hat mich nie gesehen. Weder kannte er mich, noch kannte ich ihn, ich wusste nur dass er der Sohn eines älteren Nachbarn war und nicht umbedingt einer, der die Welt bewegt. Jedenfalls niemand, den man dringend stalken müsste.
Trotzdem musste ich ihn während dieser frühen Sommerstunden immer beobachten, wie er mit einer Kippe auf dem Balkon seiner Eltern stand und in die Ferne schaute.
Er war zurück nach Hause gezogen, weil er Krebs hatte.
* * *
Im Frühsommer war der Junge noch kräftig. Im Hochsommer wurde er dünn. Ich wunderte mich, dass er sich nicht hinsetzte auf dem Balkon, er sah schwach aus und bewegte sich langsam.
Aber vielleicht war vor lauter Grünpflanzen ja kein Platz.
Manchmal traf ich seinen Vater, der kurz und sachlich von den Behandlungen erzählte. Wie gut sein Sohn alles mitmache, wie dankbar er den Pflegekräften begegne und dass sie jetzt diese oder jene erfolgsversprechende Methode ausprobierten.
Tatsächlich wirkte der Junge manchmal etwas fitter - soweit ich das über die Distanz der Straße erkennen konnte, allzu penetrant wollte ich ja auch nicht starren. Dann wieder wirkte er schwächer. Und ich spürte diese seltsame Gleichzeitigkeit - wenn man von verheerenden Erdrutschen oder Bürgerkriegen liest und sich das Mitgefühl mit der Erleichterung mischt, nicht selbst betroffen zu sein: Da sitze ich mit meinem gesunden Sohn im Arm, und da drüben stirbt gerade ein anderer in Zeitlupe. Dass ich froh bin, dass es nicht umgekehrt ist, ist natürlich ein menschlicher Gedanke. Aber nichts, worauf ich stolz sein könnte.
Dabei weiß ich ja, dass es jede und jeden treffen kann, jederzeit. Mich, dich, mein Kind, dein Kind. Seit ich mit 16 Halbwaise wurde, bin ich mit dieser Möglichkeit bestens vertraut: Der Tod ist ein Kumpel – einfach, weil er immer mit am Tisch sitzt.
* * *
Eines Morgens war der Junge nicht mehr da.
Ich traf dann den Vater auf der Straße, wo er ruhig und gefasst mit anderen Nachbarn sprach. Er erzählte von der letzten Nacht seines Sohnes im Krankenhaus: dass ein Freund gemeinsam mit der Nachtschwester das Bett nach draußen geschoben hatte, und der Junge in der Sommernacht unter den Sternen lag. Und wie die beiden Freunde noch einen Joint rauchten und morgens um fünf alles zu Ende war.
Dann berichtete der Vater, dass er erst vor kurzem einen großen Block Haschisch gekauft hatte für seinen Sohn (das Kiffen linderte seine Schmerzen und wohl auch die Angst) und den jetzt unter dessen Kumpels verteilen wollte. Er ist ein praktisch veranlagter Kreuzberger, der nichts verkommen lassen will.
Und obwohl ich noch nicht mal den Namen des Jungen kannte, weinte ich. Sein Vater nahm mich in den Arm und tröstetet mich, was ich ziemlich absurd fand und andererseits auch wieder nicht.
* * *
Seit diesem Sommer ist der Balkon leergeblieben. Eigentlich müsste manchmal jemand zu sehen sein, aber vielleicht schaue ich auch nicht mehr so oft aus dem Fenster. Aber wenn ich es tue, sehe ich die Pflanzen, die immer noch wuchern und wachsen. Besonders jetzt, nach diesem langen Sommer.
Bis nächste Woche, deine
Judith “heute ohne Tipps” Hyams
PS: Das Vermächtnis des Jungen war folgende Bitte: Hör auf die Signale deines Körpers und kümmere dich gut um ihn! Recht hat er!