Anfang dieser Woche wurde das Unwort des Jahres verkündet. Und zwar hübscherweise in Marburg (mich freut immer, wenn mein Heimatstädtchen mit etwas anderem Aufsehen erregt als dem soeben wieder grassierenden “Marburg-Virus”).
Die interessante Wortwahl: “biodeutsch”.
Die Begründung: Das Wort werde vor allem auf den sozialen Medien von rechten Kreisen rassistisch und ausgrenzend benutzt, "um Menschen vor dem Hintergrund vermeintlich biologischer Abstammungskriterien einzuteilen, zu bewerten und zu diskriminieren" (O-Ton Jury).
Ich las die Nachricht in meinem Morgenmantel, Kaffee schlürfend, und dachte, dass ich mal wieder nix mitbekommen habe.
Wieso ist mir noch nie aufgefallen, dass jemand dieses Wort völkisch und ausgrenzend benutzt? Und zwar - allen Ernstes. Für mich war der Begriff “biodeutsch” bis dahin reine Satire, ein Geschwisterkind der deutschen “Kartoffel”.
Die Kurzrecherche ergab, dass das Wort erstmal 1996 von dem türkischen Karikaturisten und Kabarettisten Muhsin Omurca benutzt wurde, und zwar in einem Cartoon für die taz, in dem ein Mann zu seinem Nachbarn mit schwarzem Schnurrbart und Teeglas folgendes sagt:
„Der Unterschied zwischen dir und mir besteht darin, Hüsnü: Du bist ein getürkter Deutscher! Eine Fälschung! Und ich … Ich bin ein Original! Ein Bio-Deutscher“.
Ich zweifelte an meiner Beobachtungsgabe, die die unfreundliche Übernahme des Begriffes durch rechts einfach nicht mitbekommen hatte.
Dann zweifelte ich an der Wahl selbst: Gibt man der negativen (also der ernst gemeinten, völkischen) Konnotation des Begriffs nicht erst Gewicht, wenn man sie so an den Pranger stellt? Schließlich sind auch schlechte Nachrichten Nachrichten und bedeuten Aufmerksamkeit. Man kann sagen, dass am Montag die rassistische Umdeutung in Stein gemeißelt wurde - und nicht die ursprünglich satirisch-ironische Wortschöpfung.
Und schließlich zweifelte ich an den Jungs und Mädels von der Deutschland-den-Deutschen-Front: Sind sie so unkreativ, dass sie ihre markigen Worte ausgerechnet von nicht-biodeutschen Satirikern klauen müssen?
Und ist die sprachliche Übernahme eines augenzwinkernden migrantischen Begriffs nicht ein klarer Fall von, äh, kultureller Aneignung?
(So wie das Pali-Tuch nicht nur von linken, sondern gelegendlich auch von stramm rechten Hälsen getragen wird - oder der Begriff Begriff “woke” über die Jahre ähnliche Drehungen durchmacht wie ein Balletttänzer).
Schließlich, als von meinem Kaffee nur noch eine kalte Pfütze übrig war, überzeugte mich die Wahl der Marburger Jury dann doch noch.
Und zwar, weil sie den rechten Deutschtümlern damit offiziell & mit Brief und Siegel klar macht, dass diese die Sprache türkischstämmiger Komiker sprechen.
Oder, wie Muhsin Omurca es formuliert: "Wer sich biodeutsch nennt und das ernst meint, ist selbst eine Karikatur von mir."
Hab eine heitere Woche,
xx Judith
PS: Wenn Deutschnationalisten Begriffe aus dem Migrantensprech benutzen und italienische Schlagersongs à la “L’amour toujours” vereinnahmen - bleibt im original deutschen Repertoire nicht mehr viel übrig. Außer die Kartoffel. Dass die eigentlich aus Südamerika kommt, vergessen wir jetzt einfach mal…