Mein kleiner Sohn heißt Ariel. Wenn Leute zum ersten Mal seinen Namen hören, reagieren sie meist irgendwie.
Sie sagen dann entweder: „Wie Arielle die Meerjungfrau!“ oder: „Der heißt ja wie das Waschmittel!“. Seltener: „Wie der Luftgeist aus dem Theaterstück 'Der Sturm'?“ oder: „Der Löwe Gottes aus der Bibel!“. Manchmal kommt ein prüfender Seitenblick und ein: „Etwa wie Ariel Scharon?!?“
Von Walt Disney über Shakespeare, vom Waschpulver bis zu verstorbenen israelischen Hardliner-Politikern ist also einiges dabei, was die Leute (je nach Bildungsgrad) wiedererkennen - und ich merke dann immer, wie gerne sie assoziieren und den Namen mit Bedeutung versehen.
Etwas benennen, einen Namen mit Sinn zu füllen, sich von etwas ein Bild machen und ein Label draufkleben - das ist ein zutiefst menschlicher Prozess.
Aber Namensgebung ist nicht nur logisch und natürlich, wenn ein neuer Mensch geboren wird. Sondern genauso, wenn neue Phänomene, Tätigkeiten, Krankheiten oder gesellschaftspolitische Veränderungen auftauchen (ich sag nur: Doomscrolling, Aluhüte, Corona - und seltsam, dass mir grade nur negative Dinge einfallen). Ich glaube, das nennt man Neologismus.
Übrigens. Am Pfingstmontag war ich bei einem Familientreffen in einem Charlottenburger Schrebergarten, und zwischen Tzatziki, Chips und Brownies poppte plötzlich das Wort “woke” auf.
Eine Cousine fragte darauf “wook was?”. Obwohl sie nicht in einer Höhle lebt, hatte sie den Begriff tatsächlich noch nie gehört. Ich witzelte, dass es ihr ab sofort so gehen würde wie Schwangeren, die plötzlich überall nur noch dicke Bäuche sehen - nun wird sie den Begriff sehen, wohin sie auch schaut.
Ein anderer Cousin fragte dann aus seinem Klappstuhl “Vogue wie die Zeitschrift?”, und als wir uns schlapp lachten, fing er an zu schimpfen, weil er den Begriff mit der AFD verknüpft, nach dem Motto “die reden doch immer über Wokeness, also muss das doch schlecht sein”.
Ich aß mein Stück Spinat-Börek auf, den wir noch schnell als Beitrag zum Büffett am Kotti gekauft hatten, und versuchte mich in einer kurzen, sachlichen Einordnung des Begriffs und seiner Bedeutung. Erklärte, dass “woke” nicht nur ein Schimpfwort von Markus Söder oder Elon Musk ist, sondern bereits in den 1930ern unter Afroamerikanern entstanden ist, und im Grunde nur bedeutet, wach und achtsam gegenüber Ausgrenzung zu sein - der Duden definiert es als „in hohem Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung“.
Dann belehrte ich die ahnungslose Cousine, dass der Begriff seit ein paar Jahren eine seltsame Eigendynamik gewonnen hat, einerseits in der penetranten Art und Weise, wie manche Menschen diese Wachsamkeit auslegen, und andererseits in der aggressiven Aufrüstung im verbalen Kampf gegen alles “woke”.
Aber irgendwie wurde mein Vortrag rasch überschallt von einem lauten, kontroversen Gespräch über Schokoküsse und deren früherer Bezeichnung, an der Kirche kampierender Sinti und Roma und den Schüler einer als Lehrerin tätigen Freundin, der nur noch auf den Namen “Champignon” hört. Und wie man mit all dem umzugehen habe.
Es war wie so häufig: viel Erregung und wenig Ergebnisse. Und während ich die letzten Börek-Krümel mit den Fingerspitzen aufpickte, bekam ich plötzlich Mitleid mit dem Begriff “woke”.
Eigentlich war er doch völlig ok. Aber dann stopften die Leute ihn mit unterschiedlichsten Bedeutungen voll, jeder meint was anderes, für die einen ist er stolze Selbstbezeichnung, für die anderen ein Schimpfwort. Bücher, Artikel und Talkshows widmen sich ihm, und im Wortgefecht hat er die sonderbare Funktion, gleichzeitig Wurfgeschoss und Zielscheibe zu sein.
Die Verwirrung um “wokeness” zeigt auch, dass es natürlich nicht der Begriff als solcher ist, sondern was die Leute daraus machen. So wie nicht die Religionen das Problem sind, sondern was Menschen im Namen Gottes alles tun (hierzu bitte mal in diesen Song der Klezmatics hineinhören).
Das also dachte ich an diesem schönen, sonnig-verregneten Pfingstmontag, während die Verwandten sich aufregten und genau jene Diskursvulnerabilität an den Tag legten, die unsere gesamte Gesellschaft beherrscht (schön umständlicher Begriff für die Tatsache, dass es oft kaum noch um sachliche Argumente geht, sondern immer um Gefühle).
Und weil eh keiner auf mich hörte, trat ich aus der Laube auf die Wiese und machte Balkan Beats an. Jemand sang auf Griechisch, und ein anderer Verwandter, der sich während der gesamten Diskussion nicht geäußert und stattdessen ein paar Biere verdrückt hatte (und übrigens von uns allen die einzige biodeutsche Kartoffel ist), begann eine Art Sirtaki auf dem nassen Gras zu tanzen.
Und ich dachte noch kurz, dass man mit dem Begriff “kulturelle Aneignung” jetzt sicher auch ein lustiges Fass öffnen könnte.
Und dann tanzte ich mit.
Bis nächste Woche,
xx Judith