Hast du allmählich genug von dem Aufreger-Thema über die „Sänger:innen von Sylt“? Dann klick' am besten gleich weiter – ich muss mich nämlich auch nochmal kurz äußern.
„Eklig“. So hat der Kanzler den Vorfall der „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!“ grölenden Upperclass-Kids in einer Edel-Bar genannt. Und ähnliche Beschwerden und Beschimpfungen sind seither republikweit von allen Seiten auf die beschwipsten Schnösel eingehagelt.
Ich muss sagen, ich fand es weniger eklig als vielmehr - verrückt. Das Ganze hat mir mal wieder das Gefühl vermittelt, dass die Gegenwart ein riesiges Kino ist – und ständig laufen nur die schrägsten Filme.
Folgendes ist mir dazu aufgefallen:
Doppelmoral
Dass man das Verhalten der grölenden Heinis nicht gutheißen kann, ist selbstverständlich. Gleichzeitig wundere ich mich über die allgemeine Verwunderung darüber, dass grade „gutsituierte“ Leute zu so was fähig sind. Rassisten, Antisemiten und Hohlköpfe gibt es bekanntlich überall und in allen Gesellschaftsschichten - es sind eben nicht nur arbeitslose, untervögelte sächsische Skinheads.
„Gutsituiert“ sind vermutlich auch die meisten der Studierenden, die kürzlich das Sozialwissenschaftsgebäude der Berliner Humboldt-Uni besetzten, „Yallah, yallah, Intifada“ durch ihre Corona-Masken schrien und damit zu nichts weniger als zum Terror gegen Juden aufriefen.
Der Party-Rassismus von Sylt kam zwar in besonders plump-plakativer Form daher (ey, sowas von 90er, Leute!). Aber in seinem dezenteren Gewand begegne ich ihm ständig.
Wie etwa bei der netten, sicher im Biosupermarkt einkaufenden und politisch korrekten Mutter, mit der ich mich neulich unterhielt. Als das Gespräch auf die türkisch- oder arabischstämmigen Mercedes-Besitzer in Kreuzberg kam, nannte sie diese nur „Klientel“. Ich blickte auf die Männer, die im nebenan liegenden Döner-Laden friedlich ihren Tee tranken und fand, dass das eigentlich neutrale Wort „Klientel“ plötzlich ächzte und keuchte von negativer Bedeutung.
Also: wenn man sich schon über die Möchtegern-Arier von Sylt beschwert, dann bitte auch über die Rassisten und Arschlöcher auf dem Festland – alles andere ist Doppelmoral.
Absurdistan
Sehr verrückt ist auch die Situation, in der sich der Erfinder des Party-Hits grade befinden muss, der als Soundteppich für die rassistischen Parolen diente. Mit diesen Auswüchsen hätte Gigi D‘Agostino sicher nicht gerechnet, als er den Song “L’amour toujours” Anfang des Jahrtausends auf dem Markt brachte - was wiederum ein gutes Beispiel dafür ist, dass jedes Kunstwerk ein echt überraschendes Eigenleben entwickeln kann, sobald es einmal in der Welt ist.
Aber bei all dem Ärger und den Verboten sei dem guten Gigi gegönnt, dass „L'amour toujours“ in der „Small Mix“ Version auf den Spitzenplatz der iTunes-Charts gerückt ist. Dieser finanziell sicher einträgliche zweite Frühling liegt natürlich nur an der ganzen Aufregung.
Denn ohne dem Künstler zu nahe treten zu wollen – ich finde den Song eher mittelmäßig. Ein nervtötendes Gedudel, dass nun mit allen möglichen Botschaften aufgeladen wird (mit den rechten Sprüchen einerseits, und andererseits mit dem Statement des Künstlers, es handele nur von ewiger Liebe).
Ich finde, musikalisch hält der Song weder mit dem einen noch dem anderen mit. Könnten wir Nazi-Parolen nicht weiterhin mit Marschmusik à la Till Lindemann unterlegen? Und Liebesschwüre mit musikalisch etwas anregenderen Melodien? Danke schön!
Auch die weißen Hemden, die goldenen Kreolen und die locker über die Schulter drapierten Kaschmirpullis der Sylt-Singers wirken fast karikaturesk. Anscheinend sehen reiche, norddeutsche Kids tatsächlich aus wie wandelnde Klischees. Am Ende tragen sie auch Wildleder-Mokassins.
Und schließlich diese Ironie, „Deutschland den Deutschen“ zu einem französisch betitelten Lied eines äußerst italienisch heißenden Sänger zu brüllen…crazy!
Verstörend
Ich kann mich nicht richtig aufraffen, mich über die rassistischen Parolen dieser Leute zu empören. Ist einfach nichts Neues. Wie gesagt, sie sind nicht die einzigen, weder die ersten noch die letzten, die so etwas von sich geben – und durch die mediale Aufregung sind sie mittlerweile sicher hart genug bestraft worden.
Was ich aber wirklich tief verstörend finde, ist vor allem eins: ihr Gesang.
Dieser fröhliche Spaß, den sie an den Tag legten! Wie sie ins Handy grinsen und schunkelnd Menschen beleidigen – mit Disco-Sounds und gottverdammten Aperol Spritz?!? Das will mir einfach nicht in den Kopf!
Doch auch das ist nichts Neues. Vom Horst Wessel-Lied der Nazis bis zu den feiernden Hamas-Killern am 7. Oktober – dass sich Menschenverachtung in Liedern und Jubeln und Feiern ausdrückt, scheint zur komplexen menschlichen Natur zu gehören.
Ich kann es trotzdem nicht fassen. Wenn man schon diffamieren und hassen muss, dann doch wenigstens mit richtig schlechter Laune und grimmiger Visage!
Der alte Spruch „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder“ stimmt jedenfalls schon mal überhaupt nicht.
Und mit diesem rant, mein liebes, virtuelles Gegenüber, wünsch ich dir trotzdem eine wunderbare Woche.
Lass uns weiter singen, und zwar was Gutes!
xx Judith