Modemäßig bin ich ja nicht so bemüht. Ich trage immer dieselben schlichten, meist schwarzen Sachen - so kann ich gleichermaßen im Büro, auf Partys, Elternabenden oder Beerdigungen auftauchen, ohne mir klamottenmäßig Gedanken machen zu müssen. Mode interessiert mich höchstens theoretisch. Als ich z.B. mal was zur “Dresscode”-Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn schrieb, machten mir Armani-Anzüge, J.P.Gaultier-Kimonos, Lack und Rüschen plötzlich ziemlichen Spaß.
Und mir fiel auf, wie unausrottbar gewisse Modetrends sind. Manches taucht auf, verschwindet wieder, biegt dann erneut um die Ecke - wie Raubkatzenmuster, Camouflage oder der Vokuhila. Dabei liegen Rhythmus und Frequenz dieser Trends zumindest für Mode-Laien wie mich vollkommen im Dunkeln - welche Ereignisse und gesellschaftlichen Launen sorgen z.B. dafür, dass Cowboystiefel wieder salonfähig sind?
Beim Statement Piece “Palästinensertuch” ist der Trendfaktor dagegen recht einfach vorherzusagen.
In ruhigeren Zeiten dient es nur einigen grünhaarigen Hundebesitzern von der Antifa als wärmendes Accessoire.
Jetzt ist es dank des Gaza-Kriegs wieder voll in Mode. Bei den arabischen Jungs von der Sonnenallee ist das nur erwartbar. Aber auch viele andere Leute, die sonst mit spitzen Fingern auf “kulturelle Aneignung” deuten, tragen grade gern schwarz-weiß oder rot-weiß: tätowierte Lesben-Pärchen, in Paderborn geborene “Mein-Kind-isst-nur-Soja-Eis”-Mütter und blonde Boys mit Nagellack (und/oder Vokuhila).
Im Nahen Osten rumpelt es, in Kreuzberg, London und New York hängen sich verwöhnte Upper Class-Kids ihr Palituch um - und im “Globalen Süden” reiben sich die Textil-Hersteller die Hände angesichts der sprunghaft angestiegenen (manche sprechen von 200 %) Nachfrage.
Die meisten Tücher kommen nämlich längst aus Asien. Der einzige palästinensische Kufiya-Hersteller aus Hebron kommt derzeit mit dem Weben kaum hinterher und ist zudem hochpreisiger - aber zum Glück gibts ja Amazon mit seiner enormen Auswahl:
Wie wärs z.B. mit dem Bestseller “FREE SOLDIER Halstuch/Kopftuch Shemagh, Palituch Taktischer Schal Arabischer Wüsten Schals Herren Palästinenser Arafat-Tuch, 110x 110 cm”, made in China für 11,99 Euro?
Oder das Modell: “Dominatur Halstuch Shemagh, 100x100 cm” für günstige 5 Euro? Laut Produktinfo: “Die Arafat ist zu einem unverzichtbaren Attribut von Soldaten geworden, die im Nahen Osten stationiert sind - eine militärische Spezifikation”.
Etwas geheimnisvoll mutet dagegen der Produktname “blntackle76” an. Der Preis von 10,89 Euro überzeugt aber auch - ebenso wie die Information: “Als Sniper Schal verwendbar und multifunktionell einsetzbar zum Tarnen von Gegenständen, Gesicht oder Hals”.
Das Beste an dem Tuch ist aber nicht die oben angepriesene “Sniper”-Fähigkeit, sondern das emotional Verbindende: Palituch-Träger fühlen sich eins mit der gerechten Gruppe. Das Herz bebt für die gute Sache, die Club Mate wird in Solidarität mit den Freiheitskämpfern von der Hamas getrunken und unter den Arafat-Tuch-Trägern herrscht respektvolles Miteinander - wahrscheinlich grüßt man sich unterwegs wie Berliner Busfahrer im Gegenverkehr.
Natürlich spreche ich aus Erfahrung.
Selbstverständlich habe auch ich mal Palituch getragen, ebenso wie ein Che-Guevara-T-Shirt. Und ich habe nicht nur Madonna und Michael Jackson gehört, sondern gelegentlich die Nationalhymne der Sowjetunion (hat eine echt schöne Melodie in Moll:-). Ich kenne das wohligwarme Gefühl, das durch Lagerfeuer, kuschelige Palitücher und linker Herdenzugehörigkeit entsteht - da machts auch nix, wenn man die im “Plenum” verbreiteten Inhalte und Kampfparolen nicht so genau versteht. Immerhin, ich war 13 oder 14.
Ü-18jährigen dürfte man etwas mehr Kenntnis über die Symbolik des Palituchs zutrauen. Etwa, dass das ursprünglich traditionell von der arabischen ländlichen Unterschicht als Kopfbedeckung getragene Tuch einen frühen Paradigmenwechsel erfahren hat. So forderte der Großmufti von Jerusalem Mohammed Amin al-Husseini die arabische Bevölkerung ab 1936 auf, die Kufiya zu tragen - als verbindendes und eindeutiges Symbol gegen die damalige britische Mandatsmacht in Palästina und die jüdischen Einwanderer (manche Quellen sprechen auch davon, dass er seine Untergebenen dazu zwang).
Fun Fact: al-Husseini unterstützte des NS-Regime und war ein eifriger Bewunderer Hitlers. Bei einem Besuch in Berlin verständigten sich die beiden Führer auf ihre gemeinsamen Feinde, nämlich “Engländer, Juden und Kommunisten”. Später politisierten Jassir Arafat und die zweifache Flugzeug-Entführerin Leila Khaled das Tuch weiter, dann verwässerte es zum allgemeinen Friedens- und Anti-Establishment-Schal, landete schließlich in den Fast-Fashion-Filialen und zeitweise auch an den Hälsen waschechter Nazis.
Und jetzt ist es wieder festes Accessoire der ”From the river to the sea”-Front.
Wärmen tut der Feudel ja schon, aber für einen kühlen Kopf sorgt er leider nicht. Und den braucht es derzeit mehr als jedes Schwarz-Weiß-Denken.
Bis nächste Woche,
xx Judith
Aber ein sehr eloquenter und informativer rant! Fast hättest Du mich ja beim “blntackle76” geinfluenced. Natürlich nicht nur, wegen des Sniper-Features ;)
Hahahaha danke - so eine kleine Amazon Suche kann schon zum irren rabbit hole ausarten….