Mein letzter Samstagabend war sehr Kreuzberg.
Die Location: ein zum Edelclub umfunktioniertes Werksschwimmbad. Das Publikum: Mittdreißiger mit Tinder-Accounts. Die Getränke: kleine Auswahl, große Preise. Bei der Stand-Up-Comedy-Show mit Shahak Shapira ging es u.a. um Tripadvisor-Reviews von Auschwitz, Sex Toys und die Realsatire namens Einbürgerungsverfahren in Sachsen-Anhalt.
Einmal hatte ein Inder im Publikum die Möglichkeit preiszugeben, was er an Berlin besonders schätzt, seine glorreiche Antwort: “The Randomness”.
Als Shapira fragte, ob jemand im Publikum eigentlich einem ehrlichen Handwerk nachgehe, (also nix mit Start-Up-Marketing-blabla), meldete sich eine Person. Von Shapira ausgefragt, sagte der Mann aus Alabama, dass er Leuten Kameras in den Hintern schiebt und dabei Verschiedenes entdeckt. Es war etwas seltsam, dass der Gastroenterologe (so heißt sein Beruf glaube ich) direkt hinter mir saß.
Jedenfalls war die Witzquote so hoch, dass ich mich nur noch krümmte vor Lachen und am Ende mit Bauchschmerzen nachhause ging.
Nach der Pause erzählte Shapira, wie sein Bruder, ein FU-Student, neulich von einem anderen Studenten zusammengeschlagen wurde (es ging um Israel/Gaza, der Fall lief durch die Presse).
Diesmal baute er keine Punchlines ein.
Dafür erzählte er locker und undramatisch von dem Vorfall, u.a. davon, wie der Bruder seiner Familie erst einen Tag später Bescheid gab, obwohl er mit zerschlagenem Gesicht im Krankenhaus lag - um seine überfürsorgliche Mutter nicht zu beunruhigen. Seine eigene Wut und Verzweiflung, die Shapira wiederum mit ein paar Witzen über die Therapiefeindlichkeit seiner Familie entdramatisierte, stand plötzlich greifbar im Raum.
Und all die hippen Grafikdesignerinnen, Erasmus-Studenten und amerikanischen Gastro-Dings-Ärzte im Publikum waren plötzlich ganz still - weil sie die Brutalität der Welt nicht mehr weglachen konnten, sondern direkt an sich heranließen.
Und wie erzeugt man jetzt Humor und Melancholie?
Humor und Melancholie wirken einerseits komplett unterschiedlich. So weit, so binse. Aber gleichzeitig sind sie auch untrennbar miteinander verknüpft, quasi als zwei Enden einer Gefühlskette. Denn das tun sie beide: sie lösen starke Gefühle aus. Was sie zu wichtigen Zutaten macht, wenn es darum geht, ein Publikum zu erreichen - egal ob durch das gesprochene oder geschriebene Wort.
Dazu passen Malcolm Gladwells Gedanken zum Gegensatzpaar Humor und Melancholie.
In einem Schreibkurs auf Masterclass.com sagt er, dass es viel einfacher ist, Lachen zu erzeugen, als Traurigkeit oder Melancholie - weil uns das Lachen näher liegt und wir viel häufiger am Tag lachen, als dass wir melancholisch sind. Vielleicht stimmt das aus seiner nordamerikanischen Perspektive (der Mann ist Kanadier, da ist die Welt noch in Ordnung, Leute:-), aber aus Berliner Sicht kann ich das nicht bestätigen (es sei denn, man sitzt grade in einer Shahak Shapira-Show). In diesem Punkt würde ich ihm also widersprechen, zumal ich finde, dass Humor doch ziemlich kompliziert zu erzeugen ist.
Humor, so Gladwell, entsteht durch Übertreibung. Also wenn man “out of character” ist, eine überzeichnete Rolle spielt oder Dinge tut und sagt und schreibt, mit denen keiner rechnet. Die sprichwörtliche rote Clownsnase also - auch wenn die natürlich niemanden mehr überrascht.
Wer dagegen melancholische Gefühle erzeugen will, muss das Gegenteil tun. Er oder sie muss das authentische Selbst zeigen, bzw. die ungekünstelte Version eines traurigen Geschehens beschreiben. Hier braucht es im Gegenteil vom Humor keine Überzeichnung, das würde die Szene stören, vielleicht sogar zerstören. Wer einen traurigen Dialog schreibt, sollte bitte nicht noch hinzufügen, wie traurig die Person guckt oder wie ihr die Tränen runterlaufen! Kurz: schreib oder sprich schlicht, sparsam und authentisch.
Shahak Shapira hat am Samstagabend genau das gemacht. Er hat anderthalb Stunden wahnwitzige, hochtourige Comedy geliefert. Und dann hat er zehn Minuten einfach nur erzählt, wie seinem Bruder “aus politischen Gründen” ins Gesicht getreten wurde. Für die zehn Minuten brauchte er keine Übertreibungen, die wirkten auch so, nur eben - ganz anderes als der Rest der Show.
Ich wünsch dir sonnige Ostertage,
xx Judith