Ein Besuch bei jemandem, der an einer schweren Krankheit leidet, ist immer seltsam. Besonders wenn man die Person kaum kennt und der Smalltalk selbst dann bemüht ausfallen würde, wenn keine "tödliche-Krankheit-Vibes" im Raum zu spüren wären.
Als ich vor ein paar Jahren eine angeheiratete Tante besuchte, kannte ich ihre Diagnose schon. Sie wohnte mit ihrem Mann in einem Kaff in Sachsen-Anhalt. Wir saßen in ihrem dunklen Wohnzimmer und redeten eine Weile, ohne das wichtigste Thema anzuschneiden. Aber dann fiel dieser Satz (ich weiß nicht mehr ob von der Tante oder ihrem Mann - aber je länger ich nachdenke, desto überzeugter bin ich, dass er es aussprach):
“Nachdem wir das mit Brigittes Bauchspeicheldrüsenkrebs-Krebs erfahren haben, haben wir erstmal den Flur gestrichen.”
Wie bitte?
Jetzt war ich hellwach.
"Wegen der Krankheit bekommen wir ja jetzt mehr Besuch von den Nachbarn - und da soll es ordentlich aussehen”.
Die Marmorkuchen-Krümel kratzten mir im Hals.
Und mir fiel auf, dass ich mich überhaupt nicht daran erinnern konnte, wie der Flur ausgesehen hatte, durch den ich eine Dreiviertelstunde vorher gelaufen war. So viel Mühe für so was Unauffälliges? Oder war es eher ein gutes Zeichen, dass ich nichts bemerkt hatte? Hatten sie den Flur so effektiv gestrichen, dass er dezent im Hintergrund blieb und den Weg zur Todgeweihten würdevoll freigab? Und wie hatte er eigentlich vorher ausgesehen, wenn der Anstrich plötzlich so, naja, lebensnotwendig war? War da schon der Asbest aus den Wänden gequollen?
Ich trank noch etwas lauwarmen Kaffee und verabschiedete mich bald.
Aber die Frage verfolgt mich bis heute: kann es tatsächlich sein, dass einen die Sorge ums eigene Ansehen bis zum letzten Atemzug verfolgt? Dass die wenigen verbleibenden, kostbaren Momente im Leben mit einer Fahrt zum Heimwerkermarkt und dem Malern von Wänden ausgefüllt werden - WEGEN DER GOTTVERDAMMTEN NACHBARN?
Wenige Wochen später war die Tante tot.
Immerhin, sie hat einen sauberen Flur hinterlassen.
Beim Schreiben sind wir häufig von ähnlichen Sorgen geplagt. Was der Tante ihr vermeintlich ungenügender, unvollkommener Flur war, ist uns das eigene Schreiben.
Zu langweilig, dumm, verrückt, unlogisch, banal, einseitig, akademisch, versaut, unakademisch, wirr, hysterisch - an negativen Selbstbeschreibungen unserer Schreibversuche mangelt es uns nicht.
Der Wortschatz unseres inneren Kritikers, er ist brutal und ausschweifend.
Die gute Nachricht: Dieser Selbstzweifel ist kein Beweis, dass das eigene Schreiben tatsächlich Mist ist - sonst würden nicht sogar die größten Schriftsteller an eben jener Krankheit leiden.
Die schlechte Nachricht: Man muss sich dran gewöhnen. Die Verwundbarkeit, der Selbstzweifel und die imaginierte, gnadenlose Kritik aus allen Seiten gehören dazu wie die Dörfler zum Dorf - das eine gibts wohl nicht ohne das andere.
Und trotzdem existieren es ein paar Techniken, mit denen man die Stimme des inneren Kritikers zumindest ein paar Dezibel leiser stellen kann.
Wenn du die Reaktion der Leser fürchtest, frag dich zunächst, wer deine Leser überhaupt sind.
Meist stellen wir uns die völlig falschen Leute vor: unsere alten Professoren, die deutlich erfahreneren Kolleginnen oder sonst jemand mit einer autoritären Aura (in meinem Fall die Redaktion der FAZ am Sonntag - ich hab da vor Urzeiten mal ein Praktikum gemacht und mir vor Respekt fast in die Hose gepinkelt).
Falls du ausschließen kannst, dass du für exakt diese Personen schreibst - vergiss sie einfach. Sie würden dich (als vielbeschäftigte Leute) eh nicht beachten, und wenn ja, wahrscheinlich noch nicht mal kritisieren.
Schreib also für die Leute, die deine Texte tatsächlich lesen werden. Und falls wenn du unsicher bist, wer das sein könnte, stell dir eine Traum-Adressatin vor: ein neugieriges Gegenüber mit Stärken, Brüchen und Macken. Und Großzügigkeit. Dein Leser ist weder Troll noch Tyrann, sondern - ein guter Mensch. Also hoffentlich jedenfalls😉.
Und falls nicht, ist selbst das ok. Irgendjemand wird deine Texte immer daneben finden (lies dazu dieses Büchlein mit dem absolut passenden Titel Nobody wants to read your shit).
Manche finden ja, Hemingway hätte lieber längere Sätze schreiben sollen und Thomas Mann kürzere und William Faulkner wär’ ja sowieso langweilig.
Keep that in mind - du kannst es sowieso nicht allen recht machen. Also hör auf es zu versuchen. Schreib einfach das Beste, was grade im Moment möglich ist.
Ich verspreche dir, jemand freut sich drauf!
Bis nächste Woche,
xxx Judith