Wahnsinn und Struktur
Eine crazy Familiengeschichte plus die Frage, wie du deine Texte besser gliederst
Eine Familie mit zwölf Kindern, von denen sechs schizophren werden - mehr Infos brauchte ich nicht, um mir das Buch “Hidden Valley Road - Im Kopf einer amerikanischen Familie” zu holen und in einem Rutsch durchzulesen.
Der Journalist Robert Kolker beschreibt über 500 Seiten die Entwicklung einer gewissen Familie Galvin. Ab 1945 bekommen der erfolgreiche, akademisch ambitionierte Militär Don und die Opernliebhaberin und Vorzeige-Hausfrau Mimi ein Dutzend Kinder, bieten ihnen eine Tip-Top-Erziehung mit Musik- und Sportunterricht und stellen die Wunschkinder wie Orgelpfeifen fürs Foto auf.
Und dann, kaum ist die Pubertät da, driften sechs von ihnen nach und nach in den Wahn ab. Einem Wahn, der sich in allen Schattierungen präsentiert - von Religiöse-Verse-Brabbeln im Adamskostüm über Sämtliche-Fische-im Aquarium-Vergiften bis zu Missbrauch und erweiterten Selbstmord.
Der Autor nutzt dabei die einzig angemessene Haltung: Er beschreibt empathisch und verurteilt niemanden (obwohl sich das angesichts der Galvin’schen Erziehungsmethoden teils geradezu aufdrängt). Außerdem bleibt er sachlich. Die Geschichte ist so dramatisch, da braucht es weder Pathos noch Gefühligkeit. Zusätzlich beschreibt Kolker die wissenschaftlichen Forschungen in den letzten 100 Jahren, die Debatten und unterschiedlichen Ansätze, die alle um die Frage kreisten: Was, zum Teufel, hilft gegen Schizophrenie?
Auch die Entwicklung innerhalb des Galvin-Kosmos ist faszinierend. Wie radikal in den ersten Jahren kaschiert und die Fassade der glücklichen Erfolgsfamilie hochgehalten wurde - während die gestörten Jungs prügelten, brüllten, zündelten und würgten. Wie die Eltern mühselig lernen mussten, dass Verdrängung nicht hilft. Wie sie Maßnahmen ergriffen und schließlich mit allen Kindern an medizinischen Studien teilnahmen und damit mithalfen, die Krankheit besser zu verstehen und zu behandeln.
Und wie die Mutter, unerschütterlicher Mount Everest in einem Himalaya von Problemen, bis zu ihrem Lebensende für ihre kranken Kinder da war und sie versorgte, wo es nur ging (wiederum nicht unkritisch gesehen von den Geschwistern, die sich dadurch benachteiligt fühlten).
Tolstois Satz “Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich” passt im Fall der Familie Galvin allemal.
Mir fiel aber noch etwas anderes an dem Buch auf:
Ein kleiner handwerklicher Kniff, durch den die monströse, weit über ein halbes Jahrhundert reichende Geschichte übersichtlich und verdaubar wird.
Und zwar stellt Kolker jedem Kapitel die immer gleiche Namensliste der Familie voran, aber jeweils den Namen des Familienmitglieds, um den es gerade geht, in gefetteter Schrift. Ein einfaches optisches Vehikel, das dem lesenden Publikum schnell und einfach Übersicht bereitet.
Damit gibt der Autor dem Buch genau das, was der Familie Galvin über die Jahre immer stärker entglitten ist: Struktur.
Struktur hilft jedem Text - verrückt-verzweigten Familiengeschichten genauso wie kurzen Stücken.
Zwar kann auch völlig intuitives Losschreiben funktionieren, aber irgendeine Form, Gliederung oder innere logische Abfolge ist meist hilfreich.
So kannst du deine Texte einfach strukturieren:
Listicle
Na klar, für kreative Geister wie dich und mich ist das natürlich die geächteste der Textformen. Andererseits hat sie grade bei Gebrauchstexten ihren Wert. Und sie funktioniert schon seit einer ganzen Weile, siehe: Die zehn Gebote!
Bulletpoints
Sicher liest du sie ständig, aber nutzt sie viel zu selten. Wenn du Informationen schnell und einfach zugänglich machen willst, pack sie einfach in Bulletpoints. Weniger geeignet für erzählerische Texte, aber perfekt für Textpassagen auf Webseiten und knackige E-Mails.
Leitfrage
Ein Kernelement in jedem guten journalistischen Text - gilt aber auch für viele andere Textgattungen. Stelle eine starke Leitfrage (bzw. Recherchefrage) und versuche, in jedem Absatz auf sie Bezug zu nehmen oder sie (mit unterschiedlichen Argumenten und Erkenntnissen) zu beantworten. Dadurch verlierst du nicht den Faden und schaffst ein robustes Gerüst für deinen Text. Oft steht die Frage auch im Untertitel und macht den Lesern sofort klar, worum es geht.
Nummerierung
Eine ziemlich überraschende Form der Strukturierung nutzt der Sachbuchautor Malcolm Gladwell. Das Problem, dass üppige Rechercheergebnisse zu verworrenen und unbeholfene Textwüsten führen können, umgeht er durch Nummerierung. Dabei vergibt er einzelnen Passagen Nummern und streicht diese am Ende. Dadurch schafft er in sich geschlossene Abschnitte, die ohne bemühte Übergange funktionieren.
Weißraum, Fettung, Bild
Hier geht es eher um die Optik als um inhaltliche Struktur. Aber es hilft vor allem beim Lesen von Online-Texten. Auch die Bleiwüsten-erfahrensten Leser schätzen: viel Weißraum, schmale Spalten statt horizontal ewig lang verlaufende Sätze, Fettungen und Zwischenüberschriften, Bilder und Grafiken. Das alles natürlich in sinnvoller Dosis und mit klugem Zusammenhang - aber wem sag ich das:-).
Es gibt noch viele andere Arten der Textgliederung, aber die jetzt alle aufzuzählen fühle ich mich gerade, ähm, zu unstrukturiert. Falls dir noch welche einfallen, schreib mir please!
Und damit bis nächste Woche,
Judith “trinkt grade English Breakfast Tea with a drop of milk” Hyams