Letzte Woche musste ich meinen Kindern mehr Düsteres erklären als sonst.
Die Kleinen hatten von dem Unglück des U-Boots Titan mitbekommen und forderten Updates im Minutentakt und schließlich, weil sich das bange Warten so hinzog, Geschichten von anderen Katastrophen. Ein paar erzählte ich (die von den indigenen Kindern, die sich vier Wochen erfolgreich durch den Amazonas geschlagen haben), andere erzählte ich nicht (Ramstein und Rammstein).
Gleichzeitig beschwerte sich die Älteste, dass nicht genug über die Hunderte von Flüchtlingen berichtet wurde, die vor kurzem vor der griechischen Küste ertranken.
Dann habe ich mit der Zweitältesten “Schindlers Liste” geschaut, als Vorbereitung für ihr Referat. Ich fand es tiefbewegend, den Film nach fast 30 Jahren wieder zu sehen - vor allem die Schlusssequenz. Da laufen die jungen Schauspieler mit den damals schon betagten Geretteten an Oscar Schindlers Grab vorbei und legen Steine ab. Heute sind die Schauspieler betagt - und die Geretteten verstorben.
Und schließlich kamen die neuesten Meldungen aus Russland und die Frage, wie der Thriller um Wagner-Chef Jewgeni Prigoschins Wahnsinns-Move enden würde.
Erklär das bitte mal einem Kind!
Und währenddessen? Schien die Sonne, aßen wir enorme Mengen Eis mit Himbeeren und die Fête de la Musique überzog ganz Kreuzberg mit tollen Klängen. Dazu kamen Kindergeburtstage, Pizza-Essen und am frühen Abend immer diese besondere Stunde, in der die Nachbarschaft ganz in orange getaucht scheint. Das ist, wenn plötzlich alle Aperol Spritz trinken.
(Selbst die Eckkneipe mit dem Flipperautomaten und den angegilbten Gardinen im Fenster bietet seit neuestem Aperol Spritz an. Normalerweise trinkt man hier Berliner Kindl und Futschi. Wahrscheinlich wollen die Besitzer Touristen anlocken wegen der Krise...aber ich schweife ab).
In der letzten Woche jedenfalls ist mir wieder die seltsame Gleichzeitigkeit des Lebens bewusst geworden.
Die Ungerechtigkeit, dass die Ex-Kollegin schwerst erkrankt ist - und ich mich kurz nach der Nachricht tatsächlich dabei ertappe, nach Tanzsschuhen zu surfen.
Die Tatsache, dass Obdachslose ihre Lager unter der Hochbahn oder im Park aufschlagen - während Dachgeschosswohnungen im gleichen Kiez zwei Mille kosten.
Die Frage, wie so viele Leute AFD wählen können - wo unser Land doch recht gut funktioniert, jedenfalls im Vergleich zu den meisten anderen.
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It’s confusing, to say the least.
Was gegen die Verwirrung der Gleichzeitigkeit hilft?
Das wüsste ich auch gern.
Vielleicht Aperol Spritz trinken. Oder Berliner Kindl.
Und der Versuch, beweglich zu blieben und mit der Ambivalenz mitzuschwingen.
Denn: Ich will einfach nicht im ständiger Alarmbereitschaft leben und mich im Doomscrolling verlieren.
Und genauso wenig will ich verdrängen oder komplett auf Nachrichten verzichten, wie immer mehr Wohlmeinende empfehlen. Seelenhygiene in allen Ehren, aber ich will etwas von der Welt mitkriegen, auch wenn es viel zu oft weh tut.
Also bleibt nur, den Tanz mitzutanzen - zwischen dem Wunderbaren und dem Widerlichen, zwischen Augenschließen und Augenöffnen, zwischen Pissegestank und Rosenduft.
Und die Gleichzeitigkeit des Lebens als das zu akzeptieren, was es ist - eine unbequeme, unausweichliche Realität.
Schreibtipp to go
Und weil alles gerade so unübersichtlich und overwhelming ist, hier noch ein einfacher, handfester Schreibtipp. Er hilft immer, egal ob beim Verfassen deines nächsten Bestsellers, deiner Fundraising-Mail oder dem Party-Ankündigungszettel für den Hausflur:
Vermeide das Passiv!
Streiche Passiv-Konstruktionen und verwandle das Sesselfurzer-Schriftstück in eine aktive Text-Diva. (Hint: In einzelnen Fällen passt die Passiv-Form tatsächlich besser, aber darauf gehe ich mal an anderer Stelle ein.)
Generell gilt also: wenn du das Passiv vermeidest, klingen Texte frischer und weniger bürokratisch. Und sie sind auch viel ehrlicher.
Denn das Problem des Passiv ist häufig, dass es die Handelnden oder Akteure verschweigt. Manchmal ist das egal, oft aber auch nicht.
Zum Beispiel:
Die T-Shirts werden in Bangladesh hergestellt (aha, von wem eigentlich?)
Dem Buchladen wird gekündigt (interessant, wer steht dahinter?)
In der Kita ist es zu Übergriffen gekommen (wie bitte - wo sind die Details?)
Und nun alles Gute und bis nächste Woche,
deine Judith “feels bittersweet today” Hyams