“Mama, bevor du stirbst machen wir aber noch ein Erinnerungsfoto”.
Das sagte der Sechsjährige neulich beim Zähneputzen.
Und ich so:
“Na klar, machen wir”.
Er fragte dann noch, wann ich eigentlich sterben werde. Die Frage kenne ich bereits, alle vier Kinder haben sie irgendwann mal gestellt.
Meine Standardantwort:
“Ich weiß es nicht, aber das dauert sicher noch ganz, ganz lange”.
Ob das stimmt, weiß ich natürlich nicht.
Seit ich meinen Vater mit 16 verloren habe ist mir bewusst, wie schnell das Leben zuende sein kann. Es muss ja nicht mal der Krebs sein, der einen auffrisst - ein aus dem vierten Stock fallender Blumentopf reicht. Im Grunde könnte jeder Tag der letzte sein, das weiß ich - möchte allerdings auch nicht permanent dran denken.
Wie die meisten Menschen befasse ich mich im Alltag nicht mit meiner Sterblichkeit, sondern mit der Steuer, BH-Preisen (findest du 57 Euro gerechtfertigt für ein hübsches Teil? Ich bin ernsthaft am Überlegen…) und mit der Frage, warum bei mir so viele Bücher angelesen herumliegen und ich kaum etwas fertig schaffe.
Am Samstagabend, als angesichts des milden Wetters die halbe Stadt auf den Beinen war, verkroch ich mich, um einen Film zu schauen.
Das ging so: Bier und ‘ne Tüte Pistazien geöffnet, Disney-Channel angeworfen, vom Überangebot überwältigt gewesen, kurz überlegt, ob ich nicht doch die Serie “The Bear” weiterschauen soll, dann plötzlich auf “Gegen die Wand” von Fatih Akin gestoßen, den ich schon längst gesehen habe - und ohne zu zögern dafür entschieden.
Das viele Blut, das “Ficken” in jedem zweiten Satz, die Lebenslust und der Lebensüberdruss des seltsamen Paares Cahit und Sibel, gespielt von Birol Ünel und Sibel Kekilli - der Film hat nichts von seiner sogartigen Wirkung verloren. Aber dass sich die Leute in die Augen schauen, statt auf Handys zu glotzen, zeigt auch, wie sehr sich die Welt verändert hat (übrigens kam der Film von genau 20 Jahren raus, am 12. Februar 2004).
Überhaupt die Augen. In ihnen bündelt sich Birol Ünels ganze brillante Performance. Er kann noch so viel torkeln, prügeln, bumsen, tanzen, die bloßen Hände in Glasscherben schlagen - die größte Kraft entwickelt er, wenn er einfach nur in die Kamera schaut. Dieser Blick voll Trauer und Begehren, Wut und Liebe dringt direkt hinüber zu uns, dem Publikum, und lässt uns auch lange nach dem Abspann nicht mehr los.
Und ich erinnerte mich, dass ich dem Schauspieler manchmal in der Oranienstraße begegnet bin. Er lief da öfters rum oder saß im Bateau Ivre am Heinrichplatz und palaverte, während die anwesenden Leute leicht verschreckt zuhörten. Und er sah exakt so abgeranzt und fetthaarig aus wie im Film.
Ich wusste auch, dass er vor ein paar Jahren gestorben ist. Trotzdem musste ich nach dem Film alles nochmal googeln. Und ich fand einen traurigen Artikel in der Welt, der beschrieb, dass er aus seiner WG geflogen war und die Hoffnung hatte, durch die Veröffentlichung eine neue Wohnung zu finden. Begleitet von einem Foto, dass ihn auf einer Treppe liegend am Kotti zeigte - der wohnungslose Ausnahmekünstler.
Im Artikel hieß es leicht hämisch, dass er sowieso nur sich selbst gespielt und nach “Gegen die Wand” nichts interessantes mehr gedreht habe.
* * *
Der Heinrichplatz heißt jetzt Rio-Reiser-Platz. Das Bateau Ivre musste nach Corona schließen und wurde durch ein neues Café ersetzt. Und Birol Ünel lebt nicht mehr.
Aber sein Blick brennt weiter in “Gegen die Wand”, seinem angeblichen One Hit Wonder. Und er verkörpert eine Verzweiflung, die Menschen zu allen Zeiten, in allen Erdteilen, unter allem Umständen spüren können.
Das ist nun wirklich keine Kleinigkeit.
Und auch wenn du und ich keine exzentrischen Schauspieler mit stechendem Blick sind, können wir uns doch fragen, was einmal - in ferner Zukunft - unsere Hinterlassenschaft sein könnte. Wird es ein Buch sein? Eine Schule für Blinde irgendwo in Armenien? Ein Heilmittel? Ein Gedicht? Ein Kind?
Ich hoffe jedenfalls, es wird mehr sein als nur ein Erinnerungsfoto.
Bis nächste Woche,
xx Judith
Wunderbar geschrieben. Danke dafür. Hast mich in das Kreuzberg mitgenommen, das ich liebe ❤️
Wow das ist ein wunderbarer Text. Hat mich sehr berührt. Danke dafür. Und mir ist eingefallen, dass ich schon immer vor hatte, "Gegen die Wand" zu schauen, es aber bis heute nicht geschafft habe. Das plane ich mal fürs Wochenende ein!