Bist du “based in Berlin”? Oder zufällig grade anwesend? Dann hoffe ich, dass du ganz viel von der Berlinale mitkriegst und mir im Nachgang davon erzählst (Filmtipps, Party-Klatsch und Roter-Teppich-Anekdoten sind mir sehr willkommen, gern hier als reply, in den Kommentaren oder mal live beim Bier).
Der Grund: Ich kriege leider genau null mit von der Berlinale - als lebte ich nicht in Kreuzberg, sondern in einem Campingwagen im Siegener Umland.
Und obwohl ich Kino extrem liebe, vermisse ich es gerade weniger als gedacht.
Vielleicht liegt es daran, dass sich die Welt wieder einmal anfühlt wie ein heftiger Film.
Krisen, Kriege und Klimawandel gehören ja eh schon zum Soundtrack unserer Zeit - hierzulande zwar nicht so drastisch spürbar wie in anderen Teilen der Welt, doch als Grundrauschen stets präsent.
Und dann kam letzten Freitag die Meldung von Alexej Nawalnys Tod.
Ich saß an meinem Schreibtisch und versuchte gerade ein paar halbwegs vernünftige Sätze zu schreiben, als eine Whatsapp der großen Tochter aufleuchtete:
“Nawalny ist tot”.
Meine hektisch getippte Antwort:
“Was, oh Gott”.
Und dann chatteten wir eine Weile hin und her, weil sie gerade niemanden zum Reden hatte und ich auch nicht.
Von einer Mitteilung überhaupt nicht überrascht, aber gleichzeitig tief getroffen zu sein, ist ein schwer in Worte zu fassender, aufwühlender Emotionscocktail - als ob sich zwei außeinanderdriftende Kräfte irgendwie vereinen müssen. Alles fühlt sich ungewohnt an.
Und ich musste an alte James Bond-Filme denken. Die wirken beinahe läppisch angesichts der Realität.
Da ist der Oppositionspolitiker Nawalny, der 2020 mit dem Kampfstoff Nowitschok vergiftet wurde, in Deutschland verarztet wurde, sich später zurückwagte in die Höhle des Löwen, sofort eingekerkert wurde, vor kurzem dann im schlimmsten russischen Gulag im sibirischen Charp landete (in eine Strafkolonie mit dem passenden Namen “Polarwolf”), am 16. Februar auf noch ungeklärte Weise starb - und dessen Leiche seither unauffindbar ist.
Die Figuren sind schillernd: Ein Schurkenstaatschef, der sich nicht das geringste um sein Image schert. Ein Mann, der sich ihm mit übermenschlichen Mut und patriotischer Hingabe entgegenstellt. Und eine Frau, die dem Kremlchef ebenfalls den Kampf ansagt - nur wenige Stunden, nachdem sie Witwe wurde.
Nach so einem Spektakel müsste eigentlich der rote Samtvorhang zugehen. Man könnte sich noch kurz im Sessel zurücklehnen, die Popcorn-Krümel von der Jeans wischen und sich denken: Ganz schön krasser Film!
Wenn all das nicht Realität wäre.
Tatsachen, die soeben passiert sind.
Und zu denen sich noch mehr filmreifer Irrsinn mischt, wie etwa das Interview des amerikanischen Fernsehmoderators Tucker Carson mit Wladimir Putin wenige Tage vor Nawalnys Tod.
Die reinste Satire, aber anscheinend ernst gemeint (wer keine Lust hat, den beiden Herren anderthalb Stunden lang zuzuhören, kann hier die Abkürzung nehmen - Jon Stewarts “Daily Show” unter dem Titel Tucker’s Journalism Masterclass ist zum Kreischen). Oder Donald Trump, der sich erst mit Nawalny vergleicht und dann goldene Sneaker vehörkert. Holy shit!
Aber was bleibt von dieser irrwitzigen Woche, die sich anfühlt, als habe man unter LSD-Einfluss alte Agentenfilme geschaut?
Es bleibt die Botschaft Nawalnys, die er an das russische Volk richtete:
“Für den Fall, dass ich getötet werde, ist meine Botschaft sehr einfach: Gebt nicht auf!
Das Böse braucht nur eins zum Sieg: die Tatenlosigkeit der guten Menschen. Seid deshalb nicht tatenlos.”
Und wir hier, die wir in Kreuzberg, Erfurt oder Flensburg leben? Seien wir froh, keinen Putin oder vergleichbaren Despoten über uns zu haben. Aber bleiben wir hellhörig. Und bleiben wir bereit, die Demokratie und unsere Werte zu verteidigen, wann immer es nötig ist.
Oder um mit Wolf Biermann zu sprechen, der den italienischen Schriftsteller Antonio Gramsci zitiert:
“Ich bin für den Pessimismus des Verstandes und den Optimismus der Tat.”
Bis nächste Woche,
xx Judith
PS: Falls du auf dicke, intellektuell hochstimulierende Bücher stehst, möchte ich dir Brauchen wir Ketzer? - Stimmen gegen die Macht meines guten Freundes Marko Martin ans Herz legen. Es porträtiert eine Reihe von Schriftstellern des letzten Jahrhunderts, die klar- und scharfsichtig erkannt haben, was in den jeweiligen politischen Systemen gehörig schief lief - eine Essaysammlung mit packender Aktualität.
Ich durfte übrigens auch eine Winzigkeit dazu beitragen - das eigentlich als Snapshot in der Jerusalemer Altstadt entstandene Autorenfoto😊).
Live beim Bier fände ich ja auch nett, Judith :) Ich war dieses Jahr tatsächlich das erste Mal auf der Berlinale. Eine Freundin hat mich in The Outrun mitgenommen. Ich war extrem gespannt, weil die Regisseurin den für mich bewegendsten Film der letzten Jahre gemacht hat, Systemsprenger, und anscheinend ein Faible für zerrissene Charaktere und Außenseiter hat.
In The Outrun geht’s um eine 29-jährige exzessive Trinkerin, die auf ihrer Heimatinsel versucht, ihrem Alkohol-Sumpf London zu entkommen.
Und ich hab mal wieder gemerkt: man sollte öfters ins Kino gehen und die tollen Kinosäle (wie den Zoopalast) auschecken.
Also falls dir doch irgendwann mal wieder nach Kino ist, melde dich gerne!
Wenn du dich jetzt übrigens fragst, warum ich so viel Zeit zum Texten habe: ich hänge gerade mit unseren Töchtern auf dem Spielplatz ab :)