I'm on the road (again)
Seit fünf Tagen bin ich in Mississippi unterwegs. Und es fühlt sich an wie fünf Wochen. Gar nicht so einfach, all die Gesichter, Geschichten, Orte und Sonderbarkeiten auseinander zu sortieren (gab es vorgestern wirklich frittierten Alligator zum Lunch? Yes Ma'am!).
Zum Beispiel war da der Blues Club Ground Zero in Clarksdale, in den ich gleich am ersten Abend hinein gestolpert bin (der Laden gehört übrigens Morgan Freeman). Auf den Tischen standen kalte Biere und scharfe Saucen, und an den Wänden hing so viel Klimbim, dass mir die Augen juckten. Die Besucher wirkten wie das Personal aus Robert Crumbs Comics, mit langen Bärten und Cowboyhüten und hast du nicht gesehen.
Morgan Freeman war zwar nicht da. Aber dafür bin ich richtig angekommen - und zwar spätestens als der Frontmann der Band ins Mikro jaulte und spielte wie von allen Blues-Gottheiten Mississippis gesegnet.
Am nächsten Tag war ich schon in den ganzen Ort verliebt!
In den verschiedenen Blues-Schuppen von Clarksdale gibt es jeden Tag die Woche Live-Musik. Außerdem Shankerman’s Men’s Wear Store, wo rosa Herrenanzüge mit passenden Wildleder-Slippern erhältlich sind (der Besitzer erzählt, dass er seinen Laden seit 1959 führt, und trotz seiner 83 Jahre nicht vorhat, mit der Arbeit aufzuhören - und dass er die 100.000 Dollar, die er neulich im Lotto gewonnen hat, zum Großteil schon verschenkt und gespendet hat).
In der Kaffee-Rösterei Meraki gibt es guten Cappuccino, außerdem werden hier junge Leute ohne Schulabschluss zu Baristas und Unternehmern ausgebildet (da verzeiht man gerne das hippe Ambiente, dass fast schon irritiert angesichts des ganzen Retro-Feelings hier ). Toll ist übrigens auch der 99 Jahre alte Barbeque-Diner ABE'S, der mit dem Slogan „Swine Dining“ wirbt:-).
Und Clarksdale war nur der Anfang.
Zum Beispiel auch dieser Spaziergang am Ufer des Mississippi. Erst kraxeln wir durchs Dickicht (laut in die Hände klatschend, um die Klapperschlangen zu verschrecken), um schließlich an die kilometerweite Sandbank zu gelangen, hinter der sich der Fluss zurückgezogen hat. Ein surrealer Ort, an dem der Fluss zu dieser Jahreszeit fast unsichtbar ist. Und gleichzeitig allmächtig. Als wir auf dem Flussbett laufen, sacken wir plötzlich im Treibsand ein und müssen auf der Stelle umkehren.
Dann wachsen hier überall gewaltige Magnolien-Bäume, mit glänzenden dicken Blättern und betörend duftenden Blüten, so groß wie Babyköpfe.
Und die Sonne brennt Anfang Juni schon so heiß, dass man Spiegeleier auf unserem Chrysler braten könnte. Mein Verständnis für Klimaanlagen, riesige Getränke mit vielen Eiswürfeln und dem extrem langsamen Gehtempo der Leute hier steigt stündlich.
Außerdem überschwemmt man uns mit Freundlichkeit, Neugier und fröhlicher Höflichkeit – sogar bei der Pinkel-Pause an der Tankstelle. Liebes Mississippi, kannst du deine Herzlichkeit bitte verpacken und bei Amazon verkaufen? Du würdest ein gutes Geschäft machen!
Und eben war ich im Wohnhaus von William Faulkner und im Square Books in Oxford, der als einer der schönsten unabhängigen Buchläden der USA gilt – aber davon fange ich jetzt gar nicht erst an!
Noch vor sechs Tagen hatte ich nur eine vage Vorstellung von Mississippi. Und jetzt sehe und atme und schmecke und höre ich es.
Genauso ist es mit dem Schreiben. Vorher gibt es vielleicht eine Idee – aber nur wenn man sie aufschreibt, nimmt sie auch Gestalt an.
Until next week,
Judith „can't get enough blues“ Hyams