„Leute, an dem Mikro hängt keine DNA von Elvis mehr dran. Ihr braucht es also nicht abzuküssen“ sagte die junge Gäste-Führerin.
Dann holte sie das Mikrofon hervor, mit dem Elvis Presley seinen ersten Song aufgenommen hatte. Und sie spielte eine frühe Radioaufnahme von „That’s All Right Mama“, bei der der Moderator mitsummte und begeistert dazwischensprach – und sofort sangen und wippten auch alle Besucher mit.
Das, was sich da letzten Montag im Sun Studio in Memphis zutrug, war wirklich unglaublich: wir durften dieses heilige Mikro anfassen, damit fürs Foto posieren und uns als Elvis-Imitatoren üben!

Das war natürlich ein bisschen albern – aber weil Sun-Studio-Besucher meist auch wahre Musikfreaks sind, war da nichts peinlich (die Leute in der Grabeskirche in Jerusalem scheren sich auch nicht um die Blicke der anderen, wenn sie sich in spiritueller Ekstase auf den Boden fallen lassen).
Jedenfalls waren auch wir Pilger im Allerheiligsten – in diesem Studio wurde die Musik von Elvis, Jerry Lee Lewis, B.B. King, Roy Orbison, Johnny Cash und anderen Größen für die Ewigkeit aufgenommen. Wegbereiter von so gut wie allen Klängen, die wir heute hören!
Draußen vor dem Sun Studio hing dieser seltene Geruch in der Luft, der entsteht, wenn es auf sehr heißen Asphalt geregnet hat. Fast konnte man den Regenpfützen beim Verdampfen zusehen.
Die Temperaturen haben mich die ganze Zeit in Mississippi und Memphis begleitet. Genau wie die Musik. Und die Geschichten der Bürgerrechtsbewegung, die immer wieder neu erzählt wurden, auf Gedenktafeln und in Museen auftauchten und ins große Narrativ der Gegend eingeflochten sind, weil sie das Leben hier in jeder Nuance bestimmen. Auch heute noch.

Zum Beispiel bei dem Gottesdienst in der Mississippi Boulevard Christian Church, den wir tags zuvor besucht hatten. Der große Kirchenbau war voll besetzt und die fast durchgängig afroamerikanische, im feinsten Sonntagsstaat gekleidete Gemeinde bereits am Singen und Beten (wir kamen ein bisschen spät, weil wir noch das Four Way Restaurant auskundschaften mussten, einer der besten Soul Food-Läden der USA mit einer großen Geschichte - hier aßen in den 1960er Jahren Schwarze und Weiße zusammen, als im Rest der Südstaaten noch die Rassentrennung herrschte, die Musiker des nahegelegenen Soul-Labels Stax kamen hier ebenso her wie Bürgerrechtsaktivisten wie Martin Luther King Jr. und Jessie Jackson).
In der Kirche jedenfalls spielte eine Band, dazu sang ein etwa 50-köpfiger Kirchenchor - beziehungsweise schmetterten und tanzten und rockten die Leute das Haus. Ein grooviges, souliges Spektakel, von dem Margot Käßmann und co. nur feucht träumen können!
Dann ergriff der Prediger das Wort und erinnerte an Tyre Nichols. Der Afro-Amerikaner wurde am 7. Januar in Memphis während einer Polizeikontrolle zu Tode geprügelt – von ebenfalls schwarzen Polizisten. Die Trauerfeier für ihn fand später in eben dieser Kirche statt. Der Prediger merkte an, dass Tyre Nichols in dieser Woche 30 Jahre alt geworden wäre, er sprach von der „epidemic of gun violence“, und dass die US-amerikanische Politik nichts gegen die vielen Massenschießereien unternehmen würde, er sprach vom Hunger im Sudan und der Not nach den Überschwemmungen in Haiti, und ich fing an, diesen Gottesdienst immer mehr zu mögen.
Und jetzt - sitze ich wieder zuhause. Fern von den Schattenseiten der USA, aber auch fern von der Musik und dem Lächeln und dem vielen lustigen Geschäker, dass ich jetzt schon vermisse.
Das Erlebnis im Äußeren ist zu Ende, nun beginnt die Transformation. Ich möchte nämlich, dass die Reise lange nachhallt und der Groove aus Mississippi und Memphis nicht zu schnell zu preussischer Starrheit gerinnt.
Ich bin nicht besonders gut darin, von meinen Reisen zu erzählen, deshalb freue ich mich, dass ich über sie schreiben und Fotos veröffentlichen kann.
Und das Beste daran ist, dass ich dafür extra aufmerksam sein muss. Da ich weiß, dass ich nach der Reise einen (oder zwei oder drei) Artikel schreiben werde, gucke ich zweimal hin, notiere mir Sachen, fotografiere Details, frage die Leute aus. Man kennt das gemeinhin als Recherche, könnte es aber, jedenfalls auf Reisen, auch „Tieferes Erleben“ nennen.
Je mehr Recherche (oder tieferes Erleben oder neugierige Fragerei), desto leichter lässt sich hinterher darüber schreiben. Und umso plastischer wird der Text. Es hilft also enorm bei der Arbeit.
Und natürlich nimmt man auch mehr für sich selber mit, wenn man sich ein bisschen hineinbeißt ins Land. Wenn man schmeckt und schaut und riecht und lauscht - und alles mitschreibt (weil das Erlebte einfach zu viel ist für ein einzelnes Gedächtnis).
Diggin’ deep heißt die Devise!
Und damit wünsche ich dir eine wunderbare Woche,
Judith “it’s now or never” Hyams
P.S. Die kleinen Rhythmusstörungen sind meinem Trip geschuldet - ab sofort tauche ich wieder Donnerstags in deiner Inbox auf.
