Letztes Wochenende war meine Freundin U. aus Lübeck zu Besuch. Wir liefen die Oranienstraße rauf und runter, überlegten, ob wir lieber Hyazinthen oder Tulpen beim Blumen Dilek kaufen sollten, passierten den Kotti, aßen Sushi und tranken abends Basil Gin Smash im Trödler - was man halt so macht, wenn die Freundschaft so gut ist, dass man sich nicht mit High-End-Events bei Laune halten muss.
Aber eins fiel mir auf: Bei jedem Polizeieinsatz blieb U. stehen und staunte wie eine Sechsjährige. Vermutlich, weil hier an einem Tag mehr Polizei mit Blaulicht unterwegs ist als bei ihr in einem Monat.
Für mich gehören Polizisten zum Inventar. Wenn ich welche sehe, fällt mir höchstens auf, dass sie heutzutage viel hotter sind als in meiner Jugend (hessische Bullen Ende der 80er Jahre sahen folgendermaßen aus: popelgrüne Hosen, Schnauzbart und Speckbauch:).
Ich persönlich habe nichts gegen Polizisten und ich bin dankbar, dass Leute diesen harten, ungemütlichen Job freiwillig machen und sich sogar dauernd anranzen lassen. Aber weil sie ständig überall unterwegs sind, fallen sie mir kaum noch auf.
Das gleiche gilt für Graffiti, Döner-Läden, Shisha-Bars oder mit Yotam Ottolenghi-Büchern vollgestellte Küchen – all das ist in Kreuzberg so allgegenwärtig, dass ich nichts davon mehr richtig wahrnehme. Ich bin blind dafür geworden. Oder besser: Mein Blick ist flüchtig.
Wer meint, schon alles zu kennen und schon tausendmal gesehen zu haben, wird tatsächlich oberflächlich. Man schaut lieber aufs Handy statt auf die Umgebung. Mir passiert es viel zu oft, dass ich in meinem Kiez mit müder, schludriger Wahrnehmung unterwegs bin. Ist ja auch normal. Wer läuft schon immer mit geschärften Sinnen umher, besonders wenn der Alltag zehrend, das Wetter mau und die zu schleppenden Tüten schwer sind?
Aber genau dieser unachtsame Blick ist ein Problem. Zumindest für diejenigen, die mit der Welt interagieren wollen – sei es auf kreative Weise, oder um offen zu sein für die Überraschungen, die hinter jeder Ecke warten können.
Gegen den müden Blick helfen zwei einfache Maßnahmen:
1. Achtsamkeit
Und ja, ich kann das Wort auch nicht mehr hören. Aber als reizüberflutete, dauergestresste Multitasker mit zu viel Input auf allen Kanälen wirkt etwas Achtsamkeit Wunder.
Das Handy in der Tasche lassen, mit allen Sinnen wahrnehmen, und mal kurz nicht bewerten, was da vorne geschieht – klingt easy, ist aber ungewohnt. Ich habe das mal im Schweizer Wellnesshotel Bürgenstock ausprobiert (the place to be übrigens, wenn du arabischen Scheichs beim Abnehmen zuschauen willst).
Die Achtsamkeitsübung bestand darin, eine halbe Stunde lang durch den winterlichen Wald zu gehen, und zwar so langsam wie möglich. Dabei sollte man alle Sinne spitzen, aufs Vögelgezwitscher hören, Tautropfen in den Spinnweben beäugen, an feuchten Rinden riechen, Moos ertasten, treehuggen und so fort. Am Ende hat mich der Wald in seiner winterlichen Schönheit so weichgekocht, das mir Tränen übers Gesicht liefen. Kein Witz!
Wenn dir das zu esoterisch ist und dich das Wort Achtsamkeit nervt – nennen wir es doch einfach anders, vielleicht „genaue, wertfreie Beobachtung mit allen Sinnen“. Und üben wir uns darin. Es müssen auch keine Tränen fließen:).
2. Notizen machen
Auch das ist einer dieser bekannten Tipps, die man immer viel zu selten umsetzt. Aber eine kurze Notiz darüber, was du siehst, hörst oder denkst, ist Gold wert. Für spätere Texte, aber auch für dich ganz persönlich.
Ich werde oft erst durch meinen Job gezwungen, genau hinzuschauen, Gedanken und Gesprächsfetzen zu notieren oder Sachen aufzunehmen. Und darüber bin ich froh. Mein Hirn ist so löchrig, dass mir vieles durchs Raster fällt – Bilder, Namen, Szenen und Gespräche. Wenn mir an diesen Dingen etwas liegt, egal ob für Texte oder für mein eigenes Erinnerungsarsenal, muss ich sie notieren. Und zwar: so schnell wie möglich.
Nicht selten ist Schreiben das Festhalten gelebten Lebens.
Und sowohl für das Leben als auch für das (spätere) Schreiben gilt, dass Aufmerksamkeit alles ist. Also beobachte, nimm wahr, notiere – dann wird dein Schatz bewusster Momente immer größer.
Bis nächste Woche,
xx Judith
PS: Und sei auch mal nett zu Polizisten. Sie freuen sich. Und sie beobachten auch:)