Authentisch im Internet? Come on!
Von meinem Vater gibt es ein einziges Kinderfoto.
In schwarz-weiß. Da steht ein vierjähriges Wesen mit großen Augen da, in adretter Kleidung, die Arme wie seitlich angeklebt.
Gestern fragte ich meine (übrigens seit einer Woche!) 18 jährige Erstgeborene, ob sie weiß, wie viele Fotos und Selfies sie von sich besitzt. Die Antwort kam dank handyeigener Zähl-Funktion wie aus der Pistole geschossen:
20.475 !
Jetzt sind es wahrscheinlich noch mehr - mindestens eins kommt ja täglich für BeReal hinzu, eine App, die ihre User per Push-Nachricht einlädt, innerhalb von zwei Minuten ein Foto zu machen und hochzuladen - präsentiert wird also ein vermeintlich “echt authentischer” Moment. Mein Kind und sämtliche ihrer Freundinnen nutzen die App.
Man muss es sich nochmal auf der Zunge zergehen lassen: 20.475 Bilder!
Und das sind nur ihre eigenen Fotos aus den letzten Jahren - die ungezählten, von mir aufgenommenen Kinderfotos kämen also nochmal obendrauf, was die Zahl der Bilder meiner Tochter ins Unermessliche steigen lassen würde.
Wenn ich sie auffordere, das Handy wegzulegen und es mit den dauernden Selfies mal gutsein zu lassen, lacht sie nur fröhlich - und heimlich bewundere ich sie über ihr Selbstverständnis in Sachen Selbstinszenierung.
Was mich wieder zu dem scheinbar gegensätzlichen Begriff der Authentizität bringt.
Egal ob im Ruf nach authentischem Marketing, in der Aussage, dass man selbst super authentisch sei oder in der Behauptung, dass Leute heutzutage auf der Suche nach dem Echten, Wahren, Authentischen im Netz seien - ich finde das alles Nonsens.
Einerseits ist es wohl Geschmacksache. Mir geht dieser “Heilpraktiker-werben-für-sich-auf LinkedIn-Sprech” halt völlig gegen den Strich. Auch Begriffe wie “wertschätzend” und “Mehrwert” kann ich komischerweise nicht leiden.
Andererseits glaube ich nicht an Authentizität im Internet.
Jeder Auftritt im Netz ist inszeniert. Eine Performance mit einem bestimmten Ziel, allzeit optimiert, filtriert oder maskiert.
Wenn ich mich auf meiner Webseite oder auf Social Media in Jogginghosen auf dem Sofa präsentiere, mit Pudel und Club Mate und Texten voller Charakter und Persönlichkeit - dann muss das zwar nicht fake und künstlich sein, komplett authentisch ist es aber auch nicht.
Sondern eben bewusst in Szene gesetzt. Was ja auch ok ist.
Übrigens: Ich glaube auch nicht an Authentizität im echten Leben.
Wenn ich meiner Nachbarin morgens begegnen und ihr nicht ein säuselndes “Hallihallo” zurufen, sondern meine wahren Gedanken ausspucken würde, sähe es mit dem Hausfrieden sicher bald anders aus :)
Höflichkeit, subtile Täuschung, selbstbewusst-dynamische Selbstinszenierung begleiten uns doch überall hin. Vom Elternabend über Dating bis zum Akquise-Gespräch mit dem neuen Kunden - wo bitte sind wir denn ganz und gar “authentisch”?
Ok, vielleicht mal abends im Späti beim Kauf eines Wegebiers.
Adam Soboczynski schreibt es treffend in seinem Buch Die schonende Abwehr verliebter Frauen: “Nie sind wir bei uns selbst, die Schöpfung, seit wir den Sündenfall erlitten, ist reines Welttheater.”
Und natürlich ist unser Hunger nach Echtem und Rohem, nach Menschlichkeit verständlich, doch mit dem Label “Authentizität” ist es eben nicht getan.
Oder anders gesagt: Auch Authentizität ist meist eine Form von Inszenierung.
Und wer das begreift und akzeptiert, lebt, nun ja, irgendwie authentischer.
Bis nächste Woche,
xx Judith