Übermorgen, am 21. September, wäre Leonard Cohen 90 geworden. Und selbst ohne Jahrestags-Würdigungen, Dokus und Radiobeiträge wundert mich, wie allgegenwärtig der Mann in meinem Leben ist.
In Bittersüß von Susan Cain, das grade auf meinem Nachttisch liegt, ist ausführlich von einem Gedenkonzert an ihn die Rede.
Im kürzlich gelesenen, hochinteressanten Buch Who by fire erzählt Matti Friedmann, wie der Pazifist Cohen während des Jom Kippur-Krieges Konzert um Konzert vor israelischen Soldaten gibt.
Ein Freund in New York zeigte mir vor ein paar Monaten ein paar ersteigerte Briefe von Leonard Cohen an seine Marianne - ich weiß noch wie ich mich wunderte, dass die Briefe mit der Schreibmaschine geschrieben waren (hatte ich etwa ein Schreiben mit Tinte und Federkiel erwartet?).
In meinem geliebten Montreal prangt ein enormes Mural an einer Hausfassade.
Apropos: Als Cohen 2016 starb, war meine Mutter zufällig in Montreal in seinem Stammviertel unterwegs und wurde gleich vom örtlichen Fernsehteam vor die Kamera gebeten.
Auf der Hochzeit meiner Schwester dienten Songtitel als Tischkarten.
Und bei den gefühlt tausenden Interpretationen von Cohen-Songs (vor allem von Hallelujah, der als meist gecoverter Song aller Zeiten gilt - selbst Xavier Naidoo hat sich daran abgearbeitet!) trifft man manchmal auf Juwelen, wie etwa David Brozas unfassbar schöne Version von “Dance Me”.
Gut, vielleicht liegt es an meiner subjektiven Wahrnehmung, dass Cohen überall ist.
Aber wirklich, mir scheint, dass Leonard Cohen zur Projektionsfläche geworden ist für mittelalterliche, mittelverdienende Westler, die Yoga machen, ihren wöchentlichen Therapeutentermin ungern verpassen und auf ihre Datingprofile schreiben, dass sie auf “deep talk” stehen.
In diesen Kreisen gehört seine Musik dazu wie das Moleskine-Notizheft und die Ottolenghi-Kochbuch-Sammlung.
So viele Leute können sich auf ihn einigen - obwohl er so verdammt jüdisch, melancholisch, exzentrisch und ambivalent war (der Mann mit mehr Tiefgang als alle anderen hatte in den Achzigerjahren einen Fernsehauftritt als frankokanadischer Gangster - bei bei Miami Vice!!!).
Und seine Faszination liegt nicht mal in der Musik. Oder präziser: nicht nur, denn seine Musik entwickelte sich immer aus der Poesie heraus.
Seine Größe waren die Worte. Mit ihnen öffnete er uns unspirituellen, gehetzten, im täglichen banalen Klein-Klein verhafteten Wesen die Pforte nach draußen, zu dem, was wir uns nicht erklären können.
Cohen ist der biblischer Name für Priester, und genau das war Leonard Cohen für uns: ein Rabbi, ein Priester, ein Guru. Wie sein Sohn Adam nach seinem Tod sagte: “Like a cigarette is a nicotine-delivery system, he was giving you a transcendent delivery system”.
So wie in dem Gedicht (oder Song, oder Lebenserkenntnis?) The goal:
I can't leave my house
Or answer the phone
I'm going down again
But I'm not alone
Settling at last
Accounts of the soul
This for the trash
That paid in full
As for the fall, it began long ago
Can't stop the rain
Can't stop the snow
I sit in my chair
I look at the street
The neighbour returns
My smile of defeat
I move with the leaves
I shine with the chrome
I'm almost alive
I'm almost at home
No one to follow
And nothing to teach
Except that the goal
Falls short of the reach
Happy Birthday Leonard, you are the crack in everything - that’s how the light gets in!
xx bis nächste Woche, deine Judith