Vor ein paar Jahren war ich in Lissabon. Ich sollte darüber schreiben, wie es ist, mit Kindern in der Stadt unterwegs zu sein - hatte also zwei meiner Mädchen dabei.
Es war der letzte Abend eines Wochenendes voller Schönheit. Ein milder Januar, kaum Touristen. Zwei lange Tage waren wir von morgens bis abends durch die Straßen gelaufen, hatten uns durch Museen, Kirchen und bergeweise Pastel de Natas gearbeitet.
Nachts konnte ich nicht schlafen, weil ich permanent schwarzen Kaffee getrunken hatte - wir mussten einfach all die aus der Zeit gefallenen Cafés besuchen, mit ihren Spiegeln und Schnörkeln und den alten Männern in ihren 70er Jahre Anzügen.
Am Abend vor unserer Abreise schleppten die Kinder und ich uns vollkommen erschöpft zum Hotel, ich dachte ans Packen und den Flug am nächsten Morgen und freute mich aufs Bett.
Auf dem Weg zum Hotel kamen wir an einer dieser historischen Standseilbahnen vorbei, die wir vorher noch nicht bemerkt hatten. Wir beschlossen, eine allerletzte kleine Fahrt hoch und runter zu machen, um unsere Reise würdig zu beschließen.
Wir waren allein. Erst kurz bevor es losging, kam noch eine alte Frau rein. Sie wechselte ein paar Worte mit dem Fahrer, drehte sich dann um und sprach uns an - trotz meines mickrigen Portugiesisch entwickelte sich ein Gespräch.
Die Frau war klein und dünn und trug einen schwarzen Pelzmantel (das war sicher ein echter Pelz und genauso sicher nicht der Ort, um Tierschutz-Diskussionen zu führen). Dazu eine große Silberbrosche und eine Baskenmütze. Sie erzählte, dass sei 98 sei und ihr Name Suzette. Und dass sie nie verheiratet gewesen sei und kinderlos. Dafür aber habe sie sehr viele Freunde in ihrem Leben gehabt - oder auch Freundinnen, so genau hab ich das nicht verstanden. Dabei kicherte sie eindeutig-zweideutig.
Die Standseilbahn rumpelte und ächzte den Berg hinaus, und mit einem riesigen Ruck erreichten wir die obere Plattform. Die Frau stieg aus und sagte, wir sollen ihr folgen. Ich zögerte, schließlich waren wir müde, die Kinder mussten ins Bett, es war dunkel und ich hatte keine Ahnung, wo wir waren.
Aber als die kleine Frau und der Fahrer uns fragend anschauten, ließ ich es laufen. Wir stiegen aus.
Wir folgten ihr durch eine schmale, dunkle Gasse, sie zeigte auf ein Fenster und sagte: "Da wohne ich, ganz alleine”. Ich dachte, dass sie jetzt nachhause gehen wollte - aber sie lief weiter, auf ein anderes Haus mit hohem Gitterzaun zu und klingelte.
Nach einer kleinen Weile hörten wir Stimmen über die Gegensprechanlage, zwei kräftige Typen kamen raus, die wie Sicherheitsleute oder Polizisten aussahen. Anscheinend waren sie es gewohnt, von der alten Frau besucht zu werden. Nach einem kurzen Small Talk verlangte die alte Frau Wangenküsschen und die Sicherheitsleute lieferten sofort.
Dann zog sie uns weiter und führte uns zu einem Miradouro, einem Aussichtspunkt.
Die unter uns liegende Stadt war von tausenden kleinen Lichtern erleuchtet - den Ozean konnten wir in der Dunkelheit nur noch erahnen. Alle Müdigkeit war verschwunden, wir waren wie verzaubert von der Magie des Moments.
Als eins der Kinder “danke” in gebrochenem Portugiesisch sagte, küsste die Frau sie auf die Stirn. Mir fiel auf, dass sie ungefähr gleich groß war wie meine Tochter, nur eben 90 Jahre älter. Und plötzlich war sie für mich nicht mehr nur eine alte Lady, sondern ein Symbol für Lissabon: elegant und brüchig, verlockend und am Verblühen. Und voller Geschichten.
Und nun, da sie ihren Job als älteste Stadtführerin erledigt hatte, ging sie nachhause. Wir umarmten uns, dankten ihr und sagten überschwänglich “ate logo”, was sowas heißt wie “bis später”. Sie lächelte und verschwand im Schatten der Gasse, ohne sich nochmal umzudrehen.
Und dann dachte ich, wie albern mein “ate logo” war. Weil unser Treffen einmalig war, ganz buchstäblich. Und dass ich sie bestimmt nicht mehr wiedersehen werde - aber auch nicht vergessen.
Was ich mit dieser Geschichte eigentlich sagen will?
Dass auch die kleinste, flüchtigste Begegnung mit einem Menschen zu einem Schatz werden kann, den man immer mit sich tragen wird.
Wenn man sich denn für das Unerwartete öffnet, ein bisschen Glück hat und nicht nur aufs Handy starrt. Und ja, vielleicht klappt das in Lissabon auch einfacher als woanders, aber trotzdem…
Bis bald,
xx Judith
PS: Wer weiß, auf wen DU heute einen bleibenden Eindruck machst…
PPS: Die alte Frau tauchte nur als Randnotiz in meinem damaligen Artikel auf, hatte aber trotzdem eine wichtige Funktion - das zeigt, dass auch die kleinen Begebenheiten, die Nebenfiguren und Seitenstränge eine Geschichte vervollständigen können.
PPPS: Das ich mich so gut an die alte Frau erinnern kann, liegt vielleicht nicht ausschließlich an ihrer Präsenz, sondern daran, dass ich mir alles genau notiert und später drüber geschrieben habe. Auf mein Gedächtnis ist wenig Verlass, auf meine Notizbücher umso mehr:).
PPPPS: Offensichtlich ist Januar eine wirklich gute Zeit, um nach Lissabon zu reisen - meine Schwester, die grade da ist, erzählt von Touri-Massen….