3 Marketing-Lektionen von Karls Erdbeerhof
Oder wie man den Besuch eines brandenburgischen Amüsement-Parks überlebt, ohne ständig rot zu sehen
Kennst du Karls Erdbeerhof? Falls nicht, nehme ich dich auf einen kurzen Mental-Trip mit, bitte anschnallen!
Nur zur Einordnung: Der Trip war nicht meine Idee! Eins der Kinder wollte unbedingt seinen 10. Geburtstag dort feiern, und da Elternschaft ja oft Aufopferung bis zum Persönlichkeitsverlust bedeutet, fuhren wir neulich in den “Freizeitpark Elstal” in Brandenburg. Dort befand bis zur Wende übrigens gar kein Bauernhof (wie der Name “Erdbeerhof” suggerieren könnte), sondern eine sowjetische Kaserne.
Strawberry fields forever
Da wir die Tickets draußen vor der Eingangshalle kaufen müssen, können wir unauffällig die anderen Gäste beobachten. Wie erwartet sind viele Brandenburger anwesend (erkennbar an Tattoos, buntgefärbten Haaren und E-Zigaretten), eine indische Großfamilie, ein paar ältere Metalfans mit Lederweste und jede Menge Normalos vom Typ “wir gehen samstags gern zu Ikea”.
Mit Klebe-Armbändern ausgestattet treten wir durch die riesige Drehtür. Sofort schießt mir Erdbeeraroma ins Gehirn und räumt dort alle Ressentiments aus dem Weg. Ich stelle fest: mit Erdbeeren in der Nase fällt kritisches Denken schwerer.
Wenige Minuten später dudelt mir der Kopf, weil wir natürlich SOFORT in allen rotierenden Fahrtgeräten mitfahren, die hier am Eingang platziert sind. Die tausenden Kaffeekannen, die an den Wänden und von der Decke hängen, fallen mir erst später auf - warum sich ausgerechnet hier die laut Guinnesbuch der Rekorde “weltgrößte Kaffeekannen-Sammlung der Welt” befindet, erschließt sich mir nicht.
Egal, jetzt müssen wir ganz dringend. Der Gang zur Toilette entpuppt sich als geschickt gewundene Schneise durch einen Dschungel kreischend bunter Merchandising-Artikel: Kuscheltiere, Regenschirme, Erdbeer-Proseccos, Gummistiefel, Würste, Malstifte, Dips aus dem Glas, Seifen, Küchentücher - der Nippes nimmt überhaupt kein Ende. Endlich, als wir am Ziel angekommen sind, setzen wir uns seufzend auf eine Klobrille - mit Erdbeermotiv!!!
Was folgt, sind mehrere Stunden hochtourigen Amüsements. Riesenrutschen, Eisparadies (das wir in seltsam riechenden Ausleih-Zipfelmützen-Capes betreten), Achterbahn, Baby-Achterbahn, Stockbrot-Feuerchen, Autoscooter, noch mehr Rutschen, Traktoren, Ziegen, Waffelstände, Kettenkarussell, Kartoffelchips-Ausstellung, weitere Fahrgeräte mit komischen Namen, noch mehr Souvenir-Läden, Eisstände, Wasserrutsche und im Minutentakt Durchsagen wie “der kleine fünfjährige Olaf wartet am Infostand auf seine Mutti”.
Zwischendurch phantasiere ich kurz, wie das hier vor 40 Jahren aussah. In meiner Halluzination patroullieren ein paar stumme, bleiche Sowjetsoldaten im Nebel - und irgendwo röhrt ein Hirsch.
Das Bild hängt nur Sekunden in meinem Kopf, dann dudelt und braust und jauchzt es wieder um mich herum.
Die Leute haben den totalen Spaß
Die vielen Jahreskarten-Besitzer (erkennbar als Profis, die Schildchen um den Hals tragen) beweisen es - hier ist man offenbar gern Wiederholungstäter. Und Karls Erdbeerhof geht mit der Zeit: Es gibt ein diverses Klo, im Service arbeiten Leute aus allen Gegenden der Welt und den Deppenapostroph, den alte Schilder noch zeigen (Karl’s) hat man irgendwann einfach abgeschafft.
Der letzte Kraftakt wartet am Spätnachmittag, als ich versuche, die Kinder zusammenzutrommeln: das versproche Eis, nochmal aufs Klo, dann muss unbedingt noch eine Marmelade aus den gefühlt 38 Sorten ausgesucht werden (wer den Hof ohne ein Glas Erdbeermarmelade verlässt, könnte genauso gut nackt Kopfstand machen - beides wäre unerhört).
Ermattet stehe ich in der Halle, die wir Stunden zuvor betreten hatten. Menschenmengen ziehen an mir vorüber. Plötzlich übergibt sich ein Kind mitten in die Halle, die Mutter zieht es ungerührt weiter. Zum Putzen hat wohl grad niemand Zeit, und da die Besucher alle Erdbeeren auf den Augen haben, trotten sie durch die gelbe Pfütze und verteilen sie weitläufig - bis ein anders Kind darauf ausrutscht.
Feinster Slapstick als Finale eines gelungenen Tages!
Du siehst, ein Besuch lohnt sich unbedingt - ebenso wie ein scharfer Blick auf die Marketing-Taktiken des Erdbeerimperiums.
Meine drei liebsten:
1 Stick to your niche!
Konsequenter als bei Karl geht es kaum.
Produkt (Erdbeeren in jeder erdenklichen Form) + Publikum (Familien, Menschen mit Bock auf Spaß bis zum Umfallen) = Erfolg. Wer seine Nische so beherrscht, kann sich übrigens auch kleine Ausflüge erlauben (in Karls Fall: Kartoffeln:-)
2 Keine Idee ist zu verrückt!
Wenn man ein Riesenbusiness mit Erlebnisparks im Zeichen der Erdbeere aufmachen kann, müsste eigentlich alles drin sein. (Wie wärs z.B. mit einem Putzgewerbe mit nur männlichen Angestellten - und alle tragen Tanga und André Rieu-Frisuren on the job?)
3 Hammer the message!
Ein Rat, den gerade wir kreativen Freelancer uns mehr zu Herzen nehmen sollten: Verteile deine Marketing-Botschaft so massiv wie möglich - kleistere sie überall hin (tatsächlich winken mir von jeder Bushaltestelle glupschäugige Karls-Maskottchen zu), erzähl von nichts anderem und finde passionierte Brand Affiliates (wie meine Tochter:-).
Denn: wenn Karl sich nicht schämt, brauchst du es gewiss auch nicht!
Und nun wünsch ich dir eine wunderschöne Woche,
bleib frech,
deine Judith “bleibt vorerst ohne Jahreskarte” Hyams
…was ist denn eine Kartoffelchips-Ausstellung?!? 🤭